Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
länger und etwas schwerer als die Waffen, mit denen sie trainiert hatte. Als sie übungsweise ein paar Bewegungen damit vollführte, fühlte es sich zunächst merkwürdig an. Doch sie übte nun jedes Mal, wenn sie haltmachte, und zur Strafe dafür, dass sie in den vergangenen Wochen nicht mit dem Schwert trainiert hatte, bekam sie Muskelkater im Unterarm und Handgelenk. Doch schon nach wenigen Tagen ging es erheblich besser. Jenna war zuversichtlich, dass sie im Falle eines Nahkampfes gut mit der Waffe zurechtkommen würde.
Drei Tage waren seit ihrer Flucht vergangen und Jenna hatte seither keine menschliche Stimme mehr gehört. Sie hatte sich an die Wälder gehalten. Der Niederwald wich nach und nach einem dichten Wald aus hohen Laubbäumen. Jenna vermutete, dass sie sich mittlerweile im Großen Wald im Westen befand. Der Gedanke beunruhigte sie, denn dieses Waldgebiet erstreckte sich über Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Quadratmeilen. Schon die Vorstellung, dass es im Süden bis zur Südgrenze Thrandors reichte und Jenna nicht einmal wusste, was nördlich und westlich des Waldes lag, vermittelte ihr das Gefühl, in einem Ozean aus Bäumen zu schwimmen, der sie zu verschlingen drohte. Im Großen Wald im Westen war der Gorvath nicht die einzige Gefahr, die ihr drohte.
Jenna überprüfte den silbernen Talisman, dessen Pfeil noch immer nach Westen zeigte. Schicksalsergeben ließ sie ihn über dem Kittel auf ihre Brust gleiten und marschierte weiter. Für eine Umkehr war es jetzt zu spät. Die Spur hatte sie bis hierher geführt, und sie folgte ihr, egal was geschah. Calvyn brauchte sie, das war ihr Antrieb.
Als hätte der Gedanke an Calvyn ihn aus dem Nichts heraufbeschworen, meinte Jenna kurz darauf seine Stimme zu hören. Sie hielt an, legte den Kopf zur Seite und horchte.
Da war nichts.
Zu hören war allein das Gezwitscher der Waldvögel, die ihr Revier abgrenzten. Abgesehen davon war es im Wald völlig still.
»Jetzt bilde ich mir auch noch Stimmen ein«, murmelte Jenna ärgerlich und ging weiter.
Kurz darauf hielt sie erneut an.
Kein Zweifel, vor ihr ging jemand durch den Wald, und dieser Jemand rief ihren Namen.
Jenna versteckte sich hinter einem großen Baum und
blieb reglos stehen. Vorsichtig nahm sie einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn ein und spannte die Sehne.
»Jennn-aaa! Jennn-aaa!«, rief die Stimme erneut.
Jenna gefror das Herz in der Brust. Diese Stimme würde sie überall erkennen. Es war wirklich Calvyn! Überrascht, aber immer noch vorsichtig, spähte Jenna am Stamm vorbei.
Er war noch etwa fünfzig Schritte von ihr entfernt. Es gab überhaupt keinen Zweifel, das war Calvyn, wie er leibte und lebte. Er trug noch seine blau-schwarze Uniform, die allerdings schon bessere Tage gesehen hatte. Selbst aus dieser Entfernung sah Jenna die Prellungen in seinem Gesicht. Seine Stimme klang müde, so als rufe er schon lange nach ihr. Ständig drehte er den Kopf und suchte die Umgebung nach ihr ab.
Er war es!
»Jennn …«
»Hier bin ich!«
Die Worte waren heraus, ehe sie nachdenken konnte. Sie senkte den Bogen und trat hinter dem Baum hervor. Calvyn drehte ruckartig den Kopf zu ihr. Seine Augen, die soeben noch die tiefblaue Farbe gehabt hatten, die sie so liebte, brannten nun in einem bösartigen Orangerot, das Jenna erstarren und ihr das Herz gefrieren ließ.
Warum habe ich nicht daran gedacht, nach dem Talisman zu sehen?, tadelte sie sich. Hätte ich ihn wie sonst auch unter das Hemd geschoben, hätte er mich mit einem Prickeln gewarnt, dass ich dem Dämon zu nahe komme.
Doch es war alles zu spät.
Der Dämon hatte die Gestalt des Menschen angenommen, den Jenna mehr als jeden anderen sehen wollte. Er hatte ihre Liebe missbraucht, um sie in die Falle zu locken. Ein cleverer Schachzug, für Jenna vernichtend.
Mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, wehrte sich Jenna gegen die Macht des Dämons. Schweißperlen liefen ihr über die Stirn, während sie darum rang, den Arm mit dem großen Akarholzbogen zu heben.
Schritt für Schritt kam der Dämon näher.
Calvyns Gesicht war zu einer unmenschlichen Grimasse boshafter Vorfreude verzerrt und seine glühenden Augen waren unverwandt auf Jenna gerichtet.
Jenna wollte schreien, doch selbst das war unmöglich.
Die Welt um sie herum begann, sich zu drehen. Das einzig Beständige waren die Augen. Das Ende war nah. Jenna wusste, dass sie gescheitert war. Der Gorvath stand nun direkt vor ihr und ihre Umgebung löste sich auf in
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