Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Tomatensaft.
»Wird auch Zeit. Ich sterbe vor Hunger!«, schimpfte sie sich für den bevorstehenden Tag schon mal warm.
Ich stand unter einem vergilbten Foto vom Hotel Paradise und sagte: »Morris Slade ist wieder da.«
Sie hatte sich gerade ein Stückchen vom Eiweiß abschneiden wollen. »Was? Der Teufelsbraten? Warum das denn?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Ich verriet ihr nicht, dass ich mit ihm gesprochen hatte, denn dann würde sie mir bloß ein Loch in den Bauch fragen.
Mit einer Toastecke stupste sie ihr Eigelb auf. »Hmm, hmm. Dann will er Beweise vernichten. Ein bisschen Gin hier im Tomatensaft würde die Sache schon beflügeln.«
Da dies keine echte Aufforderung war, ignorierte ich es. Eines muss man ihr lassen: Vor gewagten Vermutungen war Großtante Aurora noch nie zurückgeschreckt. »Was soll es denn da noch für Beweise geben, nach über zwanzig Jahren? Und nachdem das ganze Ding abgebrannt ist?«, sagte ich.
»Oh, manche Beweise halten sich ewig, sogar wenn alles niedergebrannt ist, sogar in verglommener Glut. Setz einen Privatdetektiv auf ihn an und schau mal, was er im Schilde führt.«
War ihr eigentlich klar, wie absurd sie sich anhörte? Vermutlich nicht. Sie tat immer so, als hätte ich Geld für alles Mögliche, was gar nicht stimmte. »Ich kenne keine Privatdetektive, geschweige denn könnte mir einen leisten.«
Sie knabberte an ihrem Frühstücksspeck und sparte sich die Antwort.
»Hast du Morris Slade eigentlich gut gekannt?« Das war eine dumme Frage, denn sie kannte jeden gut oder behauptete es jedenfalls. Sie tupfte sich den Mund mit der Leinenserviette ab, die beim Essen per Zimmerservice immer dabei war, Essen, das natürlich von mir gebracht wurde. »Selbstverständlich kannte ich ihn. Das war ein ganz schöner Schlingel.«
Wenn Morris Slade mir wie irgendwas vorkam, dann jedenfalls nicht wie ein Schlingel. Nun waren Schlingel ja auch jünger als er heute. Vielleicht war ihm seine Schlingelhaftigkeit verschütt gegangen, als er entdeckte, dass das Leben schwer war. Jedenfalls war er viel zu distinguiert, um als Schlingel bezeichnet zu werden.
»Ist der etwa immer noch mit dieser Wollmaus verheiratet?«
»Mit Imogen Woodruff? Ich glaub schon.« Davon war gar nicht die Rede gewesen.
»Haben die sich nie scheiden lassen?« Sie überlegte. »Zum Tatort.«
»Was?«
»Zum Tatort, da wird er hingehen.«
»Zum Belle Ruin? Da geht er vielleicht sowieso hin, wenn er seine Tochter dort zum letzten Mal gesehen hat.« Die Vorstellung, dass er dort, in den Überresten des Hotels, stehen würde, war schmerzlich. Dass er vielleicht nach dem Zimmer suchte, aus dem sie weggebracht worden war.
Aurora lachte bellend. »Du meinst, das wird eine Art sentimentale Reise in die Vergangenheit?«
»Ich versteh immer noch nicht, was er da nach zwanzig Jahren noch finden soll.«
»Es muss ja kein Blutfleck oder Fingerabdruck sein. Vielleicht hat es ja auch gar nichts mit dem Belle Ruin selbst zu tun. Vielleicht geht es um eine Person. Oder um Informationen.« Sie nahm eine halbe Scheibe Toastbrot und sagte angewidert: »Verbrannt.«
War es gar nicht. »Hast du schon mal erlebt, dass meine Mutter was Verbranntes serviert hätte?«
Ihre Augenbrauen vollführten ein Tänzchen, als ob das eine Antwort wäre. Dabei legte sie den perfekt gebräunten Toast auf ihren Teller zurück und faltete die Hände (in ihren lavendelfarbenen Spitzenhandschuhen) überm Bauch. »Ich kannte mal einen namens Oates.«
Ich hatte keinen blassen Dunst, wovon sie redete. »Was?«
»Einen Privatdetektiv. Hast du nicht zugehört? Ja, Larry oder Barry, nein, Harry Oates. Wir haben zusammen unterm Sternenhimmel getanzt.«
Ich stieß mich von der Wand ab und beschloss, Leine zu ziehen, bevor sie sich allzu gut an die Szene erinnerte und womöglich aufstand.
38. KAPITEL
Die beste Wahl waren die Brüder Woods und Mr Root vermutlich nicht, obwohl sie sich aufrichtig freuten, mich zu sehen.
Als hätte er sich, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, überhaupt nicht hingesetzt, hielt Ulub immer noch denselben Gedichtband in der Hand und deklamierte dasselbe Gedicht, oder jedenfalls hörte es sich so an. Es lief nach demselben Verfahren ab: Ulub brachte eine, mir vollkommen unverständliche Zeile hervor, Mr Root ließ seine Hand durch die Luft herniedersausen, und Ubub gab als Metronom mit dem Fuß den Takt dazu an.
Ich kam zur Bank. »Ulub braucht eine Pause, Mr Root. Kommen Sie, wir gehen rein und holen
Weitere Kostenlose Bücher