Das Versprechen
hatte. Sie hörte ein Geräusch, hob den Kopf und sah Cottons Wagen auf der Straße näher kommen. Sie winkte. Cotton sah sie ebenfalls, winkte zurück, stieg aus dem Wagen und kam zu ihr auf die Veranda. Sie blickten hinaus auf die Landschaft. »Um diese Jahreszeit ist es hier wunderschön«, stellte er fest. »Ich glaube, es gibt keinen schöneren Ort auf der Erde.«
»Warum ist mein Vater dann nie mehr hierher zurückgekommen?«
Cotton nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf. »Nun, ich habe schon des Öfteren von Schriftstellern gehört, die ihre Jugend an einem besonderen Ort verbrachten und dann ihr ganzes Leben lang darüber schrieben, ohne jemals an den Ort zurückzukehren, der sie zum Schreiben angeregt hat. Ich weiß nicht, Lou, vielleicht hatten sie Angst, wenn sie je zurücckehrten und diesen Ort in einem anderen Licht sähen, würde es ihnen die Kraft rauben, ihre Geschichten zu schreiben.«
»Ihnen die Erinnerungen verderben, meinen Sie?«
»So in etwa. Wie denkst du denn darüber? Wenn du nie zu deinen Wurzeln zurücckehren dürftest, um eine große Schriftstellerin sein zu können?«
Lou brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich finde, das ist ein viel zu hoher Preis für ein bisschen Ruhm.«
Ehe sie zu Bett ging, versuchte Lou jeden Abend wenigstens einen der Briefe zu lesen, den ihre Mutter an Louisa geschickt hatte. An einem Abend eine Woche später klemmte die Schublade, in der Lou die Briefe aufbewahrte. Sie schob die Hand hinein, um die Lade gerade zu rücken, als ihre Finger etwas streiften, das an der Unterseite der Tischplatte klebte. Sie kniete sich hin, blickte in die Schublade hinein, so gut es ging, und tastete behutsam ihren Fund ab. Einige Sekunden später zog sie einen Briefumschlag heraus, der dort festgeklebt worden war. Sie setzte sich aufs Bett und betrachtete das dünne Päckchen. Es trug außen keine Aufschrift, aber Lou fühlte das Papier, das darin steckte. Sie zog die Bögen langsam heraus. Sie waren alt und vergilbt, genauso wie der Umschlag.
Lou ließ sich auf dem Bett nach hinten sinken, las die gestochene Handschrift, und Tränen liefen ihr über die Wangen, noch ehe sie zu Ende gelesen hatte. Ihr Vater war fünfzehn Jahre alt gewesen, als er diese Zeilen geschrieben hatte, denn das Datum stand auf dem oberen Rand der Seite.
Lou ging zu Louisa, setzte sich zu ihr an den Kamin, berichtete, was sie gefunden hatte, und las ihr mit klarer Stimme den Text vor:
»Ich heiße John Jacob Cardinal, werde aber meist nur kurz Jack genannt. Mein Vater ist jetzt seit fünf Jahren tot, und meine Mutter ... nun, ich hoffe, es geht ihr gut, wo immer sie gerade sein mag. Auf einem Berg aufzuwachsen hinterlässt seine Spuren bei allen, die den Überfluss und die Not kennen gelernt haben, die es dort beide gibt. Überdies ist das Leben hier dafür bekannt, dass es Geschichten hervorbringt, die einen belustigen, aber auch zu Tränen rühren können. Auf den nächsten Seiten erzähle ich eine Geschichte, die ich von meinem Vater kurz vor seinem Tod erfuhr. Ich habe seitdem oft über seine Worte nachgedacht, doch erst jetzt finde ich den Mut, sie niederzuschreiben. Ich erinnere mich sehr genau an die Geschichte, aber einige der Worte sind gewiss eher meine eigenen als die meines Vaters. Allerdings glaube ich, dass ich den Geist seiner Erzählung vollständig erhalten habe.
Wer immer diese Zeilen jetzt liest, ich kann ihm nur den einen Rat geben: Lies aufmerksam, denke gründlich darüber nach und bilde dir dein eigenes Urteil. Ich liebe den Berg fast genauso innig, wie ich meinen Vater liebte, doch ich weiß, dass ich eines Tages von hier weggehen werde, und sobald ich diesen Ort verlassen habe, werde ich wohl nie mehr hierher zurücckehren. Gerade dieser Einsicht wegen muss ich ausdrücklich betonen, dass ich glaube, ich könnte für den Rest meines Lebens sehr glücklich sein.«
Lou blätterte um und las Louisa die Geschichte ihres Vaters vor.
»Es war für den Mann ein langer, anstrengender Tag gewesen, obgleich er als Farmer nie andere Tage erlebt hatte. Und in dem Wissen, dass die Felder ausgedörrt waren, dass in der Vorratskammer Leere herrschte, dass die Kinder hungerten und dass seine Frau mit ihrem Leben unzufrieden war, entschloss er sich zu einem Spaziergang. Er war noch nicht weit gegangen, als er einem Geistlichen begegnete, der an einem Tümpel auf einem Stein saß. >Du bist ein Mann der Erde<, stellte er mit sanfter, weiser Stimme fest. Der Farmer
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