Das Versprechen der Kurtisane
Weise von einer Kokotte zu träumen, die mit ihrer Verachtung für ihn nicht hinter dem Berg hielt?
Er war zu lange enthaltsam geblieben. Nach seiner Heimkehr war er so oft und so heftig von düsteren Stimmungen heimgesucht worden, dass es ihm undenkbar erschienen war, sich mit einer Frau einzulassen. Selbst jetzt, da die Anfälle der Schwermut langsam nachließen, war er dieser Meinung … Er hatte eine Schuld zu begleichen, ein Versprechen einzulösen, Wiedergutmachung zu leisten, bevor er daran denken konnte, der Lust nachzugeben.
Will schlug die Decke zurück und schwang seinen verschwitzten Körper aus dem Bett in die erschreckende Kälte der Morgenluft. Er hatte schon gewusst, warum er das Fenster offen gelassen hatte. Heute gab es kein Ausschlafen; seine Schwester würde in einer guten Stunde da sein, und dann musste er sich einer erneuten Prüfung seiner Bußfertigkeit unterziehen. Wo hatte er nur seine gute Weste gelassen?
Lydia umklammerte ihr Retikül und wand sich die Kordel fester ums Handgelenk. Auf dem Weg vom Clarendon Square in die Threadneedle Street war sie nicht überfallen worden, und jetzt, als sie in der imposanten Halle der Bank stand, musste sie wohl nicht mehr mit Taschendieben rechnen. Dennoch grub sie die Finger fest in den Beutel und betastete durch die Seide hindurch immer wieder die Scheine im Inneren, auf denen sie ihre Zukunft aufbauen würde.
Einhundert Pfund. Hundertdreißig zu Hause in der Schublade. Fehlten nur noch siebzehnhundertsiebzig.
Zweitausend Pfund, zu fünf Prozent angelegt, würden ihr jährlich einhundert einbringen. Von einhundert Pfund konnte eine alleinstehende Frau respektabel leben. Nicht luxuriös – das Haus würde klein sein, die Kerzen aus Talg, und vermutlich würde sie sich an Tee ohne Zucker gewöhnen müssen – doch es würde ausreichen, alles instand zu halten, und etwa zehn Pfund pro Jahr würde sie wohl für ein Dienstmädchen erübrigen können.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf Jane, die geduldig auf der Bank saß und wartete, während ihre Herrin sich anstellte. Sie war ein gutes Mädchen – fleißig und klaglos – und verdiente etwas Besseres, als auf undurchsichtigen Missionen von einem Ende der Stadt zum anderen geschleift zu werden.
Doch eine respektable Dame ging eben nicht ohne Begleitung aus, und schon gar nicht in Geschäftsangelegenheiten. Und da Lydia heute als eine respektable Dame auftrat, musste Jane die Begleitung spielen.
Ein Angestellter in einem Frack hatte soeben die Geschäfte eines Mannes mit Brille abgewickelt und winkte Lydia heran. Gehorsam stand Jane auf und kam herbei. Sie humpelte. Wahrscheinlich hatte sie sich auf dem langen Marsch aus Somers Town eine Blase zugezogen. Auf dem Rückweg würden ihnen die zwei Meilen lang werden.
Darüber konnte sie sich den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war. Sie setzte sich und zupfte die dunkelblauen Röcke ihres schlichtesten, respektabelsten Kleids zurecht. Jane setzte sich zwei Sekunden später – sie hatte genau aufgepasst, als Lydia ihr erklärt hatte, wie sich die Begleiterin einer Dame zu verhalten hatte –, und dann nahm auch der Angestellte Platz und faltete die Hände auf dem Tisch. Er lächelte, und eine süffisante Heiterkeit entstellte bereits jetzt seine Züge, vom Scheitel seiner Perücke bis zu seinem unzulänglichen Kinn.
Lydia räusperte sich und saß so gerade, wie sie konnte. »Ich möchte einen Rentenversicherungsbrief erwerben.« Hatte sie das richtig gesagt? »Als Geldanlage. Die Navy-Annuität, um genau zu sein.«
»Wir sind alle stolze Unterstützer der Navy, nicht wahr?« Auch seine Stimme triefte vor Heiterkeit, als er ihren inbrünstigen Patriotismus mit einem ernsten Nicken zur Kenntnis nahm. »Aber wir bieten auch noch andere Rentenbriefe an. Die Navy-Annuität ist noch ganz neu, aber Sie haben bestimmt auch von konsolidierten Pfandbriefen gehört? Eine solide Investition, schon seit dem letzten Jahrhundert, und besonders Damen zu empfehlen, die ein festes Einkommen wünschen.«
Herrje. Er hielt sie für einen Holzkopf. »Wenn ich richtig verstehe, garantiert mir jeder Annuitätsbrief per Definition eine feste Jahresrente. Die Consols bringen momentan nur drei Prozent. Die Navy bietet fünf.« Sie warf Jane einen herrischen Blick zu. »Das haben Sie mir doch aus der Zeitung vorgelesen, nicht wahr, Miss Collier? Fünf Prozent?«
Jane spielte ihre Rolle glänzend. Sie nickte unterwürfig und warf dem Bankangestellten gleichzeitig einen
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