Das Versprechen des Architekten
sie überrascht, wie ich dort saß und interessiert las, etwas in diesen Tagen bei mir Unerhörtes.
Vater war, glaube ich, ein guter Übersetzer von Solowjows und Berdjajews philosophischen Schriften, mit der Sprache von Belletristik jedoch kam er nicht gut zurecht. Sein Tschechisch wirkte hier ziemlich holprig, ich fühlte, dass die Übersetzung nicht viel wert war. Das war das Erste, was mir bei der Lektüre jenes Textes von Nabokov in Vaters Wiedergabe einfiel. Aber es war nur, wie wenn man von einem Gehsteig zum anderen wechselt und ein vorbeifahrendes Fahrzeug einen einen Moment lang aufhält. Gleich danach, ein paar Sekunden später, kam mir der Inhalt jener Erzählung, jener fantastischen, und mir jetzt dennoch so nahen Geschichte voll zu Bewusstsein. Aber sie stellte für mich nur Literatur dar, etwas, das mit der Wirklichkeit ja nichts gemein haben kann. Diese Erzählung von Nabokov, sogar in der elenden Übersetzung meines Vaters, tat mir sehr wohl, aber das war auch alles, was ich von ihr erwarten konnte, erwarten wollte.
In dem Zimmer mit Blick zum Hof, unserem früheren Schlafzimmer also (wo jetzt, ich erinnere nochmals daran, nur noch meine Frau schläft), hatte sich die Vorhangstange an einem Ende gelockert. Die Räume hier sind hoch und somit auch die Fenster, daher reichte es nicht, auf einen Stuhl zu klettern, ich benötigte eine Leiter. Ich nahm den im Vorzimmer am Kleiderständer hängenden Kellerschlüssel und ging durch das Treppenhaus hinunter. Unser Abteil liegt ganz am Ende des langen Kellerganges, in dem man sich wie im Zugang zu irgendwelchen Kasematten fühlt. Ich entfernte das Vorhängeschloss und trat in unsere Koje, wo ich mich zwischen der Wand und einem riesigen Haufen Kohle hindurchzwängen musste. Die Stehleiter, derentwegen ich hergekommen war, stand aus unbegreiflichen Gründen in der hintersten Ecke des beispiellos chaotischen Raums. Ich schob Gegenstände zur Seite, auf deren Existenz ich schon lange vergessen hatte, ein ganzes Depot meiner Zeichenbretter sowie Kisten, Schachteln und so schwere Koffer, als ob sie mit goldenen Ziegeln gefüllt wären, ein Fahrradgestell, eine Blechbadewanne, den Rahmen eines zerbrochenen Aquariums, einen schmutzigen Gartensonnenschirm. Wobei die ganze Räumlichkeit von einer einzigen und noch dazu von einem Drahtkorb geschützten Glühbirne beim Eingang beleuchtet wurde, sodass im hinteren Teil des Kellers absolute Dunkelheit herrschte und ich mich einer Taschenlampe bedienen musste. Ich leuchtete auf die Leiter und war im Begriff, sie mir mit einem geschickten Griff zu angeln und mich damit zurückzuziehen. Als ich jedoch kehrtmachte in dieser Enge, fing der Lichtkegel ein an der Mauer angebrachtesPlakat ein. Im ersten Moment wusste ich nicht, wie es dort hingeraten war, erinnerte mich dann jedoch, dass ich es vor etwa drei Jahren hier aufgehängt hatte, nachdem ich es von einer Plakatwand, einem Holzzaun, der in der Kozí ulice eine Baulücke mit einem Bombenkrater vom Kriegsende verdeckte, abgerissen hatte. Die Begegnung mit dem Plakat hatte mich damals sehr amüsiert. Es zeigte nämlich einen mit leuchtenden Farben gemalten Volkspolizisten, also ein Organ des kommunistischen SNB, des Korps der nationalen Sicherheit, und unter ihm stand die Aufschrift „Die Polizei geht mit dem Volk!“, wozu irgendein Mutiger aber mit roter Tusche „Und wir klauen unbesorgt!“ dazugeschrieben hatte.
Gleich darauf passierte etwas Unerwartetes. Als ich das Plakat, das heißt nur einen Ausschnitt davon, die in so etwas wie Militärschuhen steckenden Füße des Bullen, nämlich mit dem Licht der Taschenlampe einfing, bemerkte ich augenblicklich, wie sich die Taschenlampe von allein in Bewegung setzte und jetzt über den Körper des Polizisten, die Details seiner Uniform, wanderte, und dann auch, wie in mir gleichzeitig etwas zu wachsen begann. Meine bisherige starre Ruhe, diese psychische Unbeweglichkeit, die gewissermaßen seelische Katalepsie, in die ich nach dem Tod meiner Schwester verfallen war, verwandelte sich jetzt schnell, geradezu überstürzt, ins genaue Gegenteil: in eine Art heftige Raserei.
Ja genau, ich wurde in den folgenden Minuten von Wut übermannt. Der ganze Hass gegenüber jenen, die Eliška zu Tode gequält, in den Selbstmord getrieben, wenn nicht gleich ermordet hatten, explodierte ausgerechnetjetzt. Ich ließ die Leiter fallen, und neben einer Schachtel mit Nägeln lag, als hätte jemand sie mir flink zugeschoben, eine Spitzhacke.
Weitere Kostenlose Bücher