Das Versprechen des Architekten
soausdrücken, dass auch ein Jongleur bestimmte Eigenschaften der Kugel nützt, um in der Luft ein fragiles Universum hervorzuzaubern. Schachspieler interessieren diese bizarren Denkaufgaben nicht. Sie schätzen und spüren ihre Schönheit, sind jedoch nicht fähig, sie hervorzubringen, weil es sich nicht um eine Sache der Erfahrung oder der Schachtechnik handelt, sondern um Inspiration, um kombinierte musikalisch-mathematisch-poetische Inspiration.“ Somit hatte ich die erste Wochenhälfte komplett vergeudet. Es hätte absolut gereicht, wenn ich nur gelernt hätte, die Figuren zu ziehen und mir gleich in der ersten Stunde des ersten Tages unverzüglich die Ausgangsstellung besagten Zweizügers aufgestellt hätte. Nicht gesegnet mit einer Zweizüger-Inspiration, vergeudete ich dann auch noch die zweite Wochenhälfte, weitere neunundvierzig Stunden.
Ich bin gewohnt, intensiv und mit riesigem Einsatz zu arbeiten, und kann mich sogar in den widrigsten Situationen ins Zeug legen, aber nie zuvor und nie danach erlebte ich, dass mein gewaltiger Einsatz so gar kein Ergebnis zeitigte. Zu Beginn der zweiten Wochenhälfte hatte ich auf fünf, an verschiedenen Plätzen der Wohnung platzierten Schachbrettern die Ausgangsstellung jenes Zweizügers aufgestellt. Ich brütete über ihm, beginnend beim Frühstück und endend bei mehrfachem nächtlichem Erwachen, wo ich mich im Bett aufsetzte und erschöpft auf das kleine Schachbrett auf dem Nachttisch schaute, das von der Leselampe am Kopfteil des Bettes schwach beleuchtet wurde, bis ich im Sitzen von Neuem einschlief und meinetwegen eine Stunde später abermals erwachte, nacheinem geträumten Spaziergang durch eine lange Kastanienallee, in der hinter jedem Baum lauernd ein Läufer, Springer oder auch Turm hervorlugte. Im Laufe einer Woche war ich sonst gewöhnlich durchaus fähig, ein architektonisches Projekt mit allem Drum und Dran, das heißt inklusive Innenausstattung, auszudenken und zu entwerfen und es bis in alle denkbaren Details auszugestalten. Aber hier hatte ich mich während dieser ganzen Zeit überhaupt nicht vom Fleck bewegt. Hatte ich am Beginn der Woche von jenem Zweizüger nichts gewusst, wusste ich nun am Ende der Woche, dass ich einfach nicht die Chance hatte, etwas davon zu wissen. Nur in mein Gedächtnis hatte ich ihn mir für immer und unauslöschlich eingeprägt!
Konečný führte mich zu einem der leeren Tischchen, stellte hier Nabokovs Zweizüger auf und streckte nach kurzer Pause die Hand aus und legte sie auf den weißen Läufer und rückte ihn auf C2. Achtung!, wollte ich rufen, aber der Baumeister, der auch meine unausgesprochenen Worte hörte, demonstrierte mir alsgleich, um was für einen wunderbaren Zug es sich handelte und was auf ihn folgte.
(Seinen Ausgang genommen hatte alles am 19. Mai 1940, um halb drei Uhr morgens und hinter dicken Vorhängen, die Nabokovs Zimmerchen vom finsteren, gedämpften Paris trennten. Nach drei hektischen Monaten und während weniger Minuten der Inspiration konstruierte er endlich seinen besten, geradezu genialen Zweizüger, stellte unter dem abgedunkelten Licht desNachtlämpchens seine beste Schachkomposition auf. Und unmittelbar neben diesem Nachtkästchen schliefen seine Frau und sein Sohn, und unter dem Sofa hervor schaute ein Spielzeuglaster, und auf dem Sofa lag eine Zeitung mit der daumengroßen Schlagzeile vom Einfall der Deutschen in Holland.)
So, lachte Baumeister Konečný, und anschließend richtete er mit der Kante des kleinen Fingers wie mit einer Guillotine den schwarzen König hin und meinte, es täte ihm sehr leid, aber das Bild werde nicht seinen Besitzer wechseln.
Ich begriff, dass er von Anfang an sehr wohl wusste, dass ich nicht die geringste Chance hätte daraufzukommen, und dass er also überhaupt nicht riskiert hatte, seinen Le Corbusier zu verlieren. Also doch die schadenfrohe Rache dafür, dass ich ihn nicht eingeladen hatte mitzunaschen an meiner Konjunktur?
Das war an einem Sommertag im Jahre 1947 gewesen. Ungefähr sechzehn Monate später versuchte Baumeister Konečný die schon scharf bewachte Staatsgrenze zu überschreiten und wurde – wie ich dann aus Baumeisterkreisen erfuhr – bei diesem verzweifelten Versuch erschossen. In seinem Köfferchen – stelle ich mir vor – hatte er unter verschiedenen Wertsachen, die ihm in den Missständen des Kapitalismus in den ersten Monaten ein leidliches Auskommen hätten ermöglich sollen, auch das Le-Corbusier-Bild. Wo es wohl heute
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