Das versteckte Experiment (German Edition)
Jan war schon ziemlich gespannt, wie sich das Rätsel ihrer Person lösen würde. Auf keinen Fall würde er an ihrem Vorhaben teilnehmen, ohne die genauen Hintergründe zu kennen, sowohl was das Vorhaben anging als auch die Person Christine.
Jan wollte Sintja unbedingt noch einmal sehen, bevor sie für zwei lange Wochen nach Frankreich verschwand. Diesmal kostete es ihn keine so große Überwindung, sie anzurufen. Da er ihre Handynummer nicht hatte, wählte er die Festnetznummer. Am anderen Ende der Leitung war Martin.
„Hallo, Martin, hier ist Jan“, meldete er sich mit einem leicht enttäuschten Unterton.
„Das ist aber nett, dass du mich anrufst“, kam die Antwort.
Jan konnte aus diesen Worten direkt heraushören, dass Martin über ihn und Sintja Bescheid wusste.
„Wie geht’s?“, fragte er nach einer etwas zu langen Pause.
„Gut, sind ja Ferien, und selbst?“
„Gut, ist Sintja da?“, fragte Jan schnell.
„Ja“, kam die Antwort.
Martin hatte wohl seinen Spaß, ihn etwas hinzuhalten.
„Kann ich sie mal sprechen?“
„Wenn sie dich sprechen will.“
„Ganz sicher“, erwiderte Jan jetzt schon etwas ungeduldig. „Hol sie doch mal ans Telefon!“
„O. k., wenn du lieber sie als mich sprechen willst. Ich verbinde mal.“
Bereits eine Sekunde später hörte Jan Sintjas Stimme. Sie hatte wohl während des ganzen Gesprächs neben Martin gestanden.
„Hallo, Jan.“
„Hallo, Sintja, du fährst schon morgen in den Urlaub?“
„Ja, wir fahren morgen gegen sechs Uhr los.“
„Hast du trotzdem noch Zeit und Lust, dich mit mir zu treffen?“
„Klar, Jan, am besten aber nicht so spät. Um 18 Uhr im Magellan?“
„Gerne, ich freu mich. Bis nachher, Sintja.“
„Bis nachher!“
Bereits lange vor dem vereinbarten Zeitpunkt traf Jan im Magellan ein. Die wenigen Gäste, die zu dieser Zeit im Lokal waren, saßen an der Bar. So konnte sich Jan einen schönen Platz aussuchen, mit Blick auf den Binnenhafen. Jan bestellte ein Bier und beobachtete das Treiben am Hafen. Er sah, wie die Zugbrücke, die über den Hafen führte, langsam hochgezogen wurde, und hörte das Warnsignal für die Fußgänger. Es war Hochwasser und die „Ronja“, ein historisches Segelschiff, wartete vor der Brücke auf die Ausfahrt. Das Schiff war in fünfjähriger Arbeit von einem Flensburger Bootsbauer mit Hilfe von Freunden erbaut worden. Als Vorbild hatte der Pfahlewer gedient, der von holländischen Siedlern Ende des 11. Jahrhunderts für den Fischfang in die Gegend von Blankenese eingeführt worden war. Die 15 m lange Ronja setzte sich jetzt in Bewegung und passierte langsam die Brücke. Bei all der Hektik, die den Alltag bestimmt, hatte dieser Anblick etwas beruhigend Langsames und auch die Passanten, die die Brücke überqueren wollten, vergaßen vielleicht für einen kurzen Augenblick ihre Termine und Verpflichtungen und ließen sich durch das Bild verzaubern. Mancher würde wahrscheinlich versuchen, die verlorene Zeit mit schnelleren Schritten aufzuholen. „Verlorene Zeit“, dachte Jan. Was heißt das eigentlich? Zeit, wenn so etwas überhaupt existierte, konnte gar nicht verloren gehen.
Natürlich bezog man den Zeitbegriff in diesem Zusammenhang nicht auf das physikalische Phänomen. Man meinte damit im Sprachgebrauch offensichtlich Zeit, die man nicht für sinnvolle Dinge nutzte. Mit dem Wort „sinnvoll“ bekam die Zeit also eine subjektive Eigenschaft. Ganz sicher war für Jan die Zeit, die er jetzt verbrachte, nicht verloren. Und die kommenden Stunden würden ganz gewiss keine verlorene Zeit bedeuten. Die Brücke war inzwischen wieder vollständig heruntergeklappt. Die meisten Fußgänger betraten die Brücke, blieben darauf stehen und sahen der Ronja nach, wie sie Richtung Außenhafen fuhr.
„Hallo, Jan, denkst du wieder über ein philosophisches Thema nach?“ hörte Jan plötzlich eine sanfte Stimme hinter sich. Bevor er aufstehen konnte, bekam er einen flüchtigen Kuss auf die Wange, und Sintja setzte sich auf den gegenüberliegenden Platz. Ihr Blick in seine Augen und ihr Lächeln zeigten ihm, dass die Verbindung zwischen ihnen genau so war wie zu dem Zeitpunkt ihres letzten Treffens, als wäre keine Zeit vergangen.
„Ich habe an dich gedacht“, erwiderte Jan und beobachtete Sintjas Reaktion. Sie lächelte ihn erneut an. Jan schien ein wenig Verlegenheit in ihrem Gesicht zu entdecken, und es gefiel ihm. Gerne hätte er dieses Bild von Sintja eingefroren, damit er es jederzeit hätte
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