Das verstummen der Kraehe
Früchte als fertiges Kompott hingestellt. Bei mir kam sie gar nicht auf die Idee. Patent, wie ich nun einmal war, konnte ich das schließlich selbst machen. Ob sie eine Vorstellung davon hatte, wie patent ihr Sohn gewesen war?
Ich ließ das Obst auf dem Küchentisch liegen, ging ins Wohnzimmer, holte hinter einer Bücherreihe im Regal ein Foto von Ben hervor und setzte mich damit auf den Boden. Es war lange her, dass ich es mir angeschaut hatte, und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis mir Tränen über die Wangen liefen. Vorsichtig strich ich mit dem Finger über sein Gesicht. Es war eine Bilderflut, die mich überschwemmte und der ich nichts entgegenzusetzen hatte. In diese Bilderflut mischte sich die Erinnerung an die erste Zeit nach seinem Verschwinden. Meine Phantasie hatte sich mit möglichen Szenarien überschlagen. Wurde er irgendwo gefangen gehalten? Lag er schwer verletzt in einem Graben? Hatte ihn jemand umgebracht? Hatte er leiden müssen? Die Ungewissheit hatte zermürbende Kräfte entwickelt. Irgendwann hatte ich mir selbst eine Antwort gegeben: Nach den Gesetzen von Vernunft, Logik und Wahrscheinlichkeit musste Ben tot sein. In manchen Momenten hatte das geholfen.
Ich erinnerte mich an den Tag, an dem die Kripobeamten uns mitteilten, dass die Ermittlungen eingestellt würden. Sie waren sich sicher, dass Ben einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, aber sie hatten keinen einzigen Anhaltspunkt gefunden, nichts, wo sie hätten ansetzen können. Ich fragte mich, ob ihre Kollegen, aus welcher Abteilung auch immer, ihnen nicht mitgeteilt hatten, dass Ben als Informant für sie gearbeitet hatte. Aber selbst wenn, überlegte ich, dürfte sie das nicht weitergebracht haben. Schließlich hätten wir sonst davon erfahren.
Ich sehnte den Tag herbei, an dem wir für Ben einen Grabstein aufstellen konnten. Gleichzeitig fürchtete ich mich davor. Meiner Mutter ging es ähnlich. Ohne Wissen meines Vaters hatte sie auf dem Untermenzinger Friedhof unter einer Linde eine Grabstätte ausgesucht. Weil Ben den Duft von Lindenblüten gemocht hatte. Und weil sie hoffte, dem Schicksal damit die Stirn bieten zu können, hatte sie mir erklärt. Vielleicht spürte sie aber auch, dass Ben tot war, und hatte auf ihre Art für ihn vorgesorgt.
Nachdem ich Äpfel und Quitten geschält und zerkleinert hatte, füllte ich alles in einen Topf, gab Wasser hinzu und drehte die Temperatur auf mittlere Flamme. Dann stellte ich mich unter die Dusche und ließ so lange heißes Wasser über mich laufen, bis mein kleines Bad von Dampf erfüllt war. Ich schlüpfte in den Bademantel und brachte Rosa ein paar von den selbst gebackenen Hundekeksen als Frühstück. Zumindest ihr Tag hatte damit schon einmal wunderbar begonnen.
Ich zog eine weiße Jeans an, ein langes und darüber ein kürzeres T-Shirt und schlang mir einen Pulli um die Schultern. Meine Haare drehte ich zu einem kreativen Gebilde und fixierte sie mit einer langen Spange. Zum Schluss tuschte ich meine Wimpern. Das alles ausgiebig und mit Zeit zu tun, empfand ich als Luxus. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel holte ich das fertige Apfel-Quitten-Kompott aus der Küche und stieg mit Rosa die Treppe hinunter.
Es war kurz nach sechs am Samstag, und ich war vermutlich als Einzige im Haus schon munter. An den Briefkästen hing ein neuer gelber Zettel. Mein Vater hatte geschrieben: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Evelyn. Einen Moment lang war ich versucht zu schreiben: Ich auch nicht . Aber ich beschloss, mich herauszuhalten. Solange die beiden überhaupt noch miteinander kommunizierten, war nichts verloren.
Im Büro öffnete ich als Erstes die Tür zum Vorgarten und pfiff nach Alfred. Einmal und dann noch einmal, aber nichts geschah. Vielleicht war es noch zu früh, versuchte ich mich zu beruhigen, doch es gelang nicht. Wenn ein Wesen verschwand – und sei es nur eine Krähe –, gingen bei mir die Alarmglocken an.
Fröstelnd verließ ich das Büro und lief mit Rosa an der Laterne mit der brennenden Kerze vorbei in den hinteren Garten. Die grauen Wolken sorgten für einen tristen Himmel. Das Thermometer war über Nacht gefallen. Während ich ein paar Rosen abschnitt, tobte Rosa mit einem Stöckchen herum. Erst als sie ihr Spiel selbst unterbrach und sich hechelnd ins Gras fallen ließ, trat ich den Rückweg an und gab ihr das Zeichen, mir zu folgen.
Im Büro stellte ich die Rosen in eine Vase und machte Kaffee. Ich sortierte die Post nach Wichtigkeit und hörte den
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