Das verstummen der Kraehe
Frau Mahlo. Wenn Sie hier so locker in den Raum werfen, Sie würden es verstehen, hätte ich den Eltern geholfen – was genau verstehen Sie dann?« Ihr war anzusehen, dass sie Mühe hatte, sich zu beherrschen. »Verstehen Sie dann die Verzweiflung dieser Eltern, die schon ein Kind an eine Erbkrankheit verloren haben? Verstehen Sie deren Hoffnung?« Sie erwartete eine Antwort.
»Ja, ich kann nachempfinden, dass Eltern den Wunsch haben, ein gesundes Kind in die Welt zu setzen. Es …«
»Es geht nicht um die Garantie eines gesunden Kindes«, brauste sie auf. »Ein Kind kann jederzeit krank werden oder sich bei einem Unfall schwer verletzen. Es geht darum, dass Eltern mit hohen genetischen Risiken die Chance bekommen, ihr Kind ohne diese Behinderung zur Welt zu bringen. Es darf nicht sein, dass Eltern mit einer speziellen genetischen Ausstattung von unseren Gesetzen zusätzlich gestraft werden. Hier geht es auch nicht um die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen, wie von PID-Gegnern so gerne ins Feld geführt wird. Diese Ausgrenzung findet nämlich nicht unter dem Mikroskop statt, sondern da draußen.« Mit dem Zeigefinger wies sie Richtung Fenster. »Um einen Eindruck davon zu bekommen, müssen Sie nur einmal mit offenen Augen durch den Alltag gehen. Alles da draußen ist auf Wachstum und Erfolg getrimmt, wer da nicht mithalten kann, fällt raus. Zugegeben, heute gibt es mehr und mehr Unterstützungssysteme für Eltern behinderter Kinder, aber längst nicht genug. Können Sie sich vorstellen, was es heißt, das Leben mit einem schwerstbehinderten Kind zu meistern oder einem todgeweihten Kind in all seinen Bedürfnissen gerecht zu werden? Die Mehrheit der Mütter wandelt ständig am Abgrund.« Sie holte tief Luft. »Bei der PID geht es darum, genetisch vorbelasteten Eltern eine Wahl zu lassen. Und glauben Sie nur nicht, dass diesen Eltern die Entscheidung für die PID leichtfällt. Auf diese Weise schwanger zu werden ist alles andere als ein Osterspaziergang und in jeder Hinsicht belastend.«
»Zum Glück stehen Sie heute nicht mehr mit einem Bein im Gefängnis, wenn Sie diese Diagnostik durchführen«, sagte Henrike.
»Für mich war es immer ein Skandal, verzweifelten Eltern nicht helfen zu dürfen – Eltern, die das Geld für den teuren PID-Auslandstourismus nicht aufbringen konnten. Ich frage mich, was das für Menschen sind, die diese Gesetze gemacht haben. Sind sie ignorant? Überheblich? Oder einfach nur grausam?«
»Manche von ihnen haben die Sorge, dass mit Verfahren wie der Präimplantationsdiagnostik Dämme brechen könnten«, entgegnete Henrike ruhig. »Sie befürchten, dass irgendwann nur noch Designerbabys und in manchen Ländern nur noch Jungen auf die Welt kommen würden.«
Die Ärztin winkte ab. »Das sind die, die in jedem Fortschritt nur Gefahren wittern. Es gibt nichts Gutes, das nicht auch ein Risiko in sich birgt oder das durch Missbrauch nicht auch ins Gegenteil verkehrt werden könnte. Aber nehmen Sie nur einmal Ihr Beispiel mit den Jungen: In Ländern, für die eine solche Entwicklung befürchtet wird, werden Mädchen gleich nach der Geburt getötet. Ist das etwa besser? Oder nehmen Sie unsere Abtreibungsgesetze! Bei bestimmten Diagnosen darf selbst ein voll entwickelter Embryo noch abgetrieben werden. Ist es da nicht humaner, vorher einzugreifen? Es gibt diese Möglichkeiten. Warum soll man sie verwehren? Nur weil einige meinen, es gehöre zum Leben dazu, dass nicht alles machbar ist? Dass genetisch vorbelastete Eltern dann eben auf Kinder verzichten sollten? In meinen Augen ist das eine bodenlose Arroganz.« Sie presste die Lippen zusammen und ließ nach ein paar Sekunden die Schultern sinken.
Wir sahen uns alle drei erschöpft an. Henrike fand ihre Sprache als Erste wieder. »Einmal angenommen, Frau Doktor Angermeier, Sie hätten den Veltes tatsächlich aus Ihrer Überzeugung heraus geholfen und Konstantin Lischka hätte davon erfahren …«
»Unmöglich!«, schnitt sie Henrike das Wort ab.
»Wieso?«
»Vorausgesetzt, es wäre so gewesen – was nicht der Fall war –, hätten nur drei Personen davon gewusst: die Veltes und ich. Und von uns dreien hätte sicher keiner auch nur ein Wort darüber verloren.«
Henrike sah einen Moment lang durchs Fenster in den Himmel, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Beate Angermeier. »Manchmal entstehen Situationen, in denen man etwas preisgibt, über das man normalerweise nie sprechen würde. Vielleicht ist eine solche Situation
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