Das verstummen der Kraehe
Gespräch mit Beate Angermeier gedanklich Revue passieren lassen. Kurz vor unserem Ziel hatte ich Henrike schließlich von der Seite angesehen und mich gefragt, welchen Beruf sie eigentlich ausgeübt hatte, bevor sie sich fürs Entrümpeln und ihren Trödelladen entschied. Ich erinnerte mich daran, dass ich ihr diese Frage schon einmal gestellt hatte. Das sei Schnee von gestern, hatte sie geantwortet, sie wolle nur noch nach vorne schauen. Ich nahm mir vor, sie noch einmal zu fragen. Aber das hatte Zeit, sie würde mir nicht davonlaufen. Sie hatte mich am Tor des Hofes abgesetzt und war in ihrem Mini davongebraust.
Die Wettervorhersage in den Zwanziguhrnachrichten hatte ich gerade noch mitbekommen. Danach war ich todmüde auf meinem Sofa eingenickt. Ich wachte erst wieder auf, als meine Beine, auf denen Rosa sich zusammengerollt hatte, eingeschlafen waren. Vorsichtig schob ich die Hündin beiseite, setzte mich auf und machte Licht. Es war kurz nach vier. Immerhin hatte ich fast acht Stunden durchgeschlafen.
Barfuß tappte ich in die Küche, setzte Milch für einen Kakao auf und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Draußen war es stockdunkel, der Mond hielt sich hinter Wolken verborgen. Sollte der Wetterbericht recht behalten, waren die Aussichten fürs Wochenende nicht allzu rosig. Aber ich würde ohnehin die meiste Zeit im Büro verbringen, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten.
In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich noch nie auf die Idee gekommen war, nachts zu arbeiten. Tagsüber nutzte ich jede Gelegenheit, aber in den schlaflosen Nächten schlich ich mich aus rein privatem Interesse in das Leben der Toten. Was von diesen Leben übrig blieb und keinen anderen interessierte, landete in der Schublade meines Bettkastens. Mit der Zeit hatte sich dort so viel angesammelt, dass ich für die nächsten Jahre mit Lesestoff versorgt war. Ich schloss die Augen, schob eine Hand zwischen die ungelesenen Materialien und überließ es dem Zufall, welchen zusammengeschnürten Stapel ich mir als nächsten vornehmen würde. Als ich ihn in Händen hielt, öffnete ich die Augen wieder und las den Vermerk, den ich auf einem rosa Haftzettel gemacht hatte: Johann Ehlers, wohnhaft in Pasing, verstorben im Alter von siebenundachtzig Jahren, Todesursache Herzversagen, ledig, keine Kinder. Es hätte dieser Eckpunkte nicht bedurft, um mich an seine Nachlasssache zu erinnern. Er hatte in der Straße gewohnt, in der auch Martins rosafarbene Gründerzeitvilla stand. Johann Ehlers’ Haus war im Vergleich dazu winzig gewesen. Da keine Erben aufzutreiben gewesen waren, hatte ich es vor Kurzem an eine Immobiliengesellschaft verkauft, die auf dem Grundstück nun vier Doppelhaushälften plante.
Ich löste die Kordel, die ich um die Hefte gebunden hatte, legte sie wie Spielkarten nebeneinander und berührte sie wie einen Schatz. Es waren dicke Hefte, die Seiten in einer gestochen scharfen Schrift eng beschrieben. Für die nächsten Wochen würden sie mich durch meine Nächte begleiten und mir Einblicke gewähren, als wäre ich ein enger Vertrauter gewesen. Ich blätterte durch die Seiten und betrachtete einige wenige Fotos, die Johann Ehlers dazwischengelegt hatte. Sonderbar, dass er nie geheiratet hatte. Den Fotos nach zu urteilen, hätten die Frauen sich um ihn reißen müssen. Schon jetzt war ich gespannt, was er erzählen würde, ob es eine unglückliche Liebe gegeben hatte oder eine heimliche. Aber das würde noch ein wenig warten müssen. Ich legte die Hefte wieder auf einen Stapel, band die Kordel darum und ließ sie in der Schublade verschwinden.
Nachdem ich den leeren Kakaobecher in die Küche gebracht hatte, setzte ich mich ins geöffnete Fenster und lauschte dem Krähen des Hahns. Unweigerlich musste ich an Alfred denken, der sich gestern nicht hatte blicken lassen. Es sei denn, in der Zeit, als ich unterwegs war. Ich konnte kaum erwarten, dass es hell wurde, ich hinuntergehen und nach ihm pfeifen konnte. Einerseits war ich mir sicher, dass er wie gewohnt auf dem Tisch landen und sich seine Nuss holen würde. Andererseits hatte ich ein mulmiges Gefühl. Woher kam es? Rührte es von meiner Angst vor einem unerwarteten Verlust? Oder war es die Angst vor einem schlechten Omen?
Um mich abzulenken, nahm ich mir den mit Äpfeln und Quitten gefüllten Jutesack vor, den meine Mutter mir in die Küche gestellt hatte. Es versetzte mir immer wieder einen Stich, wenn sie so etwas tat. Ben hätte sie die
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