Das verstummen der Kraehe
trinke?«, fragte sie schmunzelnd.
»Was tust du hier, Henrike?« Ich blickte ihr direkt in die Augen.
Ihr Schmunzeln ging in ein Lachen über. »Was ist denn jetzt los?«
»Warum bist du zu uns auf den Hof gekommen?«
Sie legte ihr Besteck auf den noch halb vollen Teller. »Dein Vater hat für die Scheune einen neuen Mieter gesucht. Und zufällig habe ich gerade eine Scheune für meinen Trödelladen gesucht. Das nennt man eine Win-win-Situation. Dieser Satz stammt übrigens nicht von mir, sondern von deinem Vater.«
»Und warum bist du aus Kiel weggegangen?«
Das Prasseln des Regens auf der Fensterscheibe wurde lauter.
»Weil mich dort nichts mehr gehalten hat. Ich hatte das Bedürfnis, noch einmal völlig neu anzufangen.«
»Hast du in Kiel jemanden zurückgelassen?«
»Niemanden von Bedeutung.«
»Was ist mit Freunden? Waren die auch ohne Bedeutung für dich?«
»Nicht jeder Mensch lässt Freunde zurück, wenn er geht. Aber manchmal findet er Freunde wie dich, Kris.« Wieder war es, als würde sie mich für einen kurzen Moment durch ihre Augen in ihr Innerstes blicken lassen.
»Ist dir unsere Freundschaft so viel wert, dass du mir die Wahrheit sagst?«
Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Tasche. »Darf ich?«
Ich nickte und kippte das Fenster.
Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. »Ganz am Anfang hast du gesagt, du würdest keine Fragen stellen. Jeder, der auf dem Hof lebe, sei wie Strandgut und habe ein Recht darauf, über seine Vergangenheit zu schweigen. Was hat sich geändert?«
»Das Strandgut hat Freundschaft geschlossen«, antwortete ich und spürte, wie viel sie mir bedeutete. Ich wollte Henrike nicht verlieren, wollte nicht eines Morgens feststellen, dass sie woanders noch einmal ganz von vorn angefangen hatte. »Was würdest du riskieren, wenn du mir etwas über deine Vergangenheit erzählst?«
Henrike umfasste den Becher mit einer Hand und schwenkte den Tee darin, so wie andere es mit Wein taten. Dann sah sie auf und fixierte mich. »Wieso ist dir meine Vergangenheit plötzlich so wichtig? Ist irgendetwas geschehen?«
In den vergangenen zehn Tagen war unendlich viel geschehen. Es kam mir vor, als steuere alles in beschleunigtem Tempo auf ein Ziel hin, das ich nicht kannte. »Es ist mir wichtig zu wissen, wer du bist.«
Sie sah mich spöttisch an und blies den Rauch zur Decke. »Möchtest du meinen Ausweis sehen?«
»Ich möchte wissen, woher du kommst und wohin du willst im Leben.«
Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. Sie schwieg.
»Wenn du meine Freundin bist, Henrike, dann tue mir das nicht an, und sei endlich ehrlich zu mir.«
»Ich werde nicht plötzlich verschwinden wie dein Bruder, das kann ich dir versprechen.«
»Warum kannst du mir nicht die Wahrheit sagen? Weil du Sorge hast, ich würde sie ausplaudern? Wenn du das glaubst, kennst du mich schlecht.«
»Wenn du wüsstest, wo Ben ist, würdest du mir das verraten?«
»Ich würde es niemandem verraten, wenn er mich darum gebeten hätte. Auch dir nicht. Ich wünschte, er hätte sich irgendwo versteckt, aber das ist nicht so. Ich bin sicher, dass mein Bruder tot ist. Hast du ihn gekannt, Henrike? Bist du deshalb zu uns auf den Hof gekommen?«
»Nein, ich habe ihn nicht gekannt.« Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Sie schwieg und sah an mir vorbei durchs Fenster in die Dunkelheit. »Du und deine Eltern … ihr habt mich hier herzlich aufgenommen. Ich musste nichts erklären. Ihr habt es mir leicht gemacht …«
In diesem Moment kam Rosa in die Küche und hielt ihre Schnauze schnuppernd in die Luft, bevor sie sich mit einem Seufzer unter dem Tisch zwischen unseren Füßen niederließ. Henrike beugte sich hinunter und streichelte sie. »Du hast es mir nicht ganz so leicht gemacht«, sagte sie zärtlich zu Rosa, um deren Vertrauen sie lange hatte buhlen müssen.
»Was haben wir dir leicht gemacht?«, zwang ich sie, den Faden wiederaufzunehmen.
Sie setzte sich auf. »Mich hier wohlzufühlen. Nicht mehr wegzuwollen.«
»Welche Umstände sollten dich bewegen, hier wegzugehen?«
»Kris, ich kann dir diese Frage nicht beantworten.«
»Wenn du hierbleiben willst, musst du sie mir beantworten. Ich schwöre dir, dass ich alles, was du mir sagst, für mich behalten werde, aber erkläre mir, was los ist. Bitte, Henrike! Wie sollen wir weiter miteinander befreundet sein, wenn ich ständig das Gefühl habe, dich nicht zu kennen? Ich habe dich bei den Gesprächen
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