Das verstummen der Kraehe
hatte viele Spekulationen heraufbeschworen. Bis hin zu der, dass er der familiären Fürsorge überdrüssig geworden und ihr entflohen sei. Aber Ben hatte keinen Grund zu fliehen gehabt. Nie war ihm zu viel abverlangt, nie war er unter Druck gesetzt worden. Ihm war alles zugeflogen – allem voran seine vielfältigen Begabungen, um die ich ihn vor allem als Kind glühend beneidet hatte.
Bens Verschwinden hatte mich in die Knie gezwungen. In Gedanken hatte ich ihn so oft zum Teufel geschickt, dass ich unter der Last meiner Schuldgefühle fast zusammenbrach – als hätten meine Gedanken ausgereicht, ihn vom Erdboden verschlucken zu lassen. Zum Glück hatte ich eine Therapeutin gefunden, die mit beiden Beinen fest auf ebendiesem Boden stand. Von ihr hatte ich viel über mich gelernt. Da Ben von Anfang an hilfsbedürftig gewesen war, hatten meine Eltern nur sehr wenig Zeit für mich und meine Bedürfnisse gehabt. Und dabei war es letztlich geblieben. Das hätte mich schon früh selbstständig und autonom werden lassen. Um mich gegenüber ihm, dem Hilfsbedürftigen, abzugrenzen und so ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, wäre aus mir die Mutige, Beherzte geworden, die Starke, der nichts zu viel ist, die alles schultern könne. Ganz ohne Groll meinem Bruder gegenüber sei das jedoch nicht vonstattengegangen. Ich solle gnädig mit mir sein und mir verzeihen, ihn zum Teufel gewünscht zu haben, hatte meine Therapeutin oft gesagt.
Ihrer Ansicht nach war es außerdem nicht überraschend, dass ich mich ausgerechnet als Nachlassverwalterin niedergelassen und damit einen Beruf gewählt hatte, in dem Verlust und Sterben zum Alltag gehörten – Themen, die in Bens ersten Lebensmonaten bei uns als starke Bedrohung im Raum gestanden hatten und nach seinem Verschwinden bittere Realität geworden waren. Außerdem müsse ich in diesem Beruf zupackend und mutig sein. Bis dahin hatte ich noch geglaubt, der Zufall habe bei meiner Berufswahl die Hand im Spiel gehabt.
Ben war immer der zarte Junge gewesen, auf den man aufpassen musste, der sich nicht überanstrengen durfte. Dabei hatte er mir mal verraten, dass er sich mitten in einem Orkan am lebendigsten fühlte, dass er diesen Kick brauchte, um das Blut in seinen Adern zu spüren. Mir waren die beständigeren Wetterlagen lieber. Ich hielt mich an das Berechenbare – so etwa an die Überzeugung, meine Ziele mit dem nötigen Einsatz erreichen zu können. Wenn du dich anstrengst, wirst du belohnt. Ich mochte diesen Satz und die Chancen, die in ihm mitschwangen. Bens Kommentar dazu hatte gelautet: Wozu sich anstrengen, wenn man sich auch gleich belohnen kann!
Er war ungeduldig, mehr seinen Stimmungen unterworfen, die sich von einer Sekunde auf die andere ändern konnten. Und er war unbedachter. Ich fragte mich, ob ihm dieses Unbedachte zum Verhängnis geworden war und ihn ohne eine einzige Spur aus unser aller Leben hatte verschwinden lassen. Denn eines war Ben nicht gewesen: grausam. Hätte er aus welchem Grund auch immer untertauchen müssen, er hätte uns eine Nachricht zukommen lassen. Da das nicht geschehen war, musste er tot sein. Davon war ich inzwischen überzeugt.
Ich schloss das Fenster und ging ins Wohnzimmer. Henrikes unverwechselbarer Duft – ein Gemisch aus Moschus und Zigarettenrauch – hing noch in der Luft. Ich schüttelte die bunten Kissen auf und verteilte sie auf den beiden grauen Sofas, die ich erst vor zwei Monaten erstanden hatte. Bei meinem Einzug hatte ich nur das besessen, was in mein WG-Zimmer in Berlin gepasst hatte: Bett, Kleiderschrank, Sessel, Schreibtisch und Bücherregal. Mit der Zeit war einiges hinzugekommen. Im Wohnzimmer hatte ich eine Wand rubinrot gestrichen und davor eine alte Kommode mit fünfzehn kleinen Schubkästen gestellt. Die andere Wand war nach und nach mit Bücherregalen zugewachsen. In meinem Schlafzimmer hatte sich nichts verändert, dort war es bei Bett und Schrank geblieben. Allerdings hatte sich mein Bett mit unzähligen Kissen zu einem Zufluchtsort entwickelt, in den ich eintauchen konnte, wenn mir danach war.
Nachdem ich heiß geduscht hatte, schlüpfte ich in eine graue Jeans und zog eine kurzärmlige, hauchdünne Bluse in der gleichen Farbe über ein schwarzes Top mit Spaghettiträgern. Nachdem ich mir einen bunten Schal mehrmals um den Hals geschlungen und ausgiebig meine Wimpern getuscht hatte, schnappte ich mir den Autoschlüssel und machte mich auf den Weg.
Der Himmel war verhangen an diesem Morgen. Über Nacht
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