Das verstummen der Kraehe
mich Rachegedanken in Atem, wie ich sie niemals zuvor für möglich gehalten hatte. Ich wollte diese Journalisten, die so etwas schrieben, leiden sehen. Ich verfluchte sie, wünschte, sie würden in eine ähnlich aussichtslose und diffamierende Lage geraten und dann einmal zu spüren bekommen, was Durchhalten bedeutete. Wie viel Kraft es erforderte. Kraft, die mein Mann nach allem, was geschehen war, nicht mehr hatte.
Und auch mir ging die Kraft aus, Frau Mahlo. Der Krebs tauchte so unvermittelt auf, er war so aggressiv, dass ich ihm nur wenig entgegenzusetzen hatte. In dieser Zeit starb meine Tante, die mir das Vermögen hinterließ, das nun Sie auf meine Erben verteilen sollen.
An dieser Stelle schlug ich den Schnellhefter zu. Niemand würde ermessen können, welcher Albtraum diesen beiden Menschen widerfahren war, sollte Fritz Lenhardt tatsächlich zu Unrecht verurteilt worden sein. Es kursierten so viele Begriffe, um Ausnahmesituationen wie diese fassbar zu machen. Aber reichte es aus, sie als tragisch, entsetzlich oder traumatisch zu bezeichnen? Wer sie am eigenen Leib zu spüren bekam, für den waren solche Begriffe nur Annäherungen an das Grauen. Von Joan Didion hatte ich einmal den Satz gelesen, Leid sei ein Ort, den niemand von uns kenne, solange wir nicht dort gewesen seien. An diesen Satz musste ich jetzt wieder denken. Gleichzeitig wollte ich mich von diesem Leid nicht beeinflussen lassen. Mitgefühl würde mir ein schlechter Ratgeber sein.
Ich lehnte mich in dem Stuhl zurück und schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. In ihrem Brief hatte Theresa Lenhardt mich aufgefordert, ihrer Wohnung erst einen Besuch abzustatten, bevor ich mich entschied, ob ich die Testamentsvollstreckung annehmen wollte. Aber was hatte mein Besuch hier ändern sollen? Was konnte der Inhalt dieses Schnellhefters ausrichten? Ihr Mann war für den Mord verurteilt worden, und selbst ein Detektiv hatte keinen Beweis für einen Justizirrtum finden können. Was nicht heißen musste, meldete sich meine innere Stimme, dass es einen solchen Beweis nicht gab.
Was hatte sie sich vorgestellt? Dass ich mir die fünf potenziellen Erben vornahm, einen nach dem anderen zu einem Gespräch einlud und fragte, ob er nicht vielleicht doch einen Hinweis zur Unschuld des Freundes hatte, einen Hinweis, den er bisher verschwiegen hatte? Was für Freunde sollten das sein, die erst mit der Wahrheit herausrückten, wenn eine beträchtliche Erbschaft ins Spiel kam?
Ich rief mir den Wortlaut des Testaments wieder ins Gedächtnis. Genau genommen sollte ich nicht den Justizirrtum aufdecken, sondern den Verdacht gegen die Freunde ausräumen. Allein die Vorstellung war absurd. Das hier war die reinste Zeitverschwendung. Ich wollte den Schnellhefter schon zuschlagen, als ich beschloss, wenigstens noch die letzten Seiten zu lesen. Ich blätterte zu der Stelle, an der ich die Lektüre unterbrochen hatte.
Liebe Kristina Mahlo, fuhr Theresa Lenhardt fort , uns beide verbindet eine sehr einschneidende Erfahrung: der Verlust eines geliebten Menschen unter tragischen Umständen. Ich erinnere mich noch gut an die erfolglose Suche nach Ihrem vermissten Bruder, an all die Plakate an Laternenmasten und Bäumen. Und ich erinnere mich auch noch an die Fragen der Kripobeamten, die nach Hinweisen für einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen suchten.
Wie hatte ich diese Fragen nur vergessen können? Natürlich: Auch uns hatten die Kripobeamten nach einer möglichen Verbindung Bens zu Konstantin Lischka befragt. Aber Ben hatte sich in einem völlig anderen Umfeld bewegt und keinerlei Berührungspunkte mit dem ermordeten Journalisten gehabt. Die zeitliche Nähe war das Einzige, was den Mord und das Verschwinden meines Bruders verband.
Ich fand diese Fragen damals völlig abwegig. Inzwischen sehe ich das anders. Denn es muss einen solchen Zusammenhang geben, Frau Mahlo. Das habe ich allerdings erst vor ein paar Wochen erfahren.
Als es mir gesundheitlich zunehmend schlechter ging, habe ich noch einmal jeden unserer Freunde zu einem Gespräch gebeten. Ich habe darum gebettelt, angesichts meines nahenden Todes offen zu mir zu sein und mich von der quälenden Ungewissheit über die Umstände, die zu Konstantins Tod geführt haben, zu erlösen. Sollten sie irgendetwas wissen, was sie bisher verschwiegen hätten, sollten sie es mir bitte sagen. Meine Freundin Rena Velte hat mir schließlich gestanden, an jenem Abend etwas belauscht zu haben, das sie jedoch bis
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