Das verstummen der Kraehe
wie Sie. Ich habe diese Situation noch einmal vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Ich will Ihnen schließlich nichts Falsches sagen. Natürlich hätte sie auch das, was ich mitbekommen habe, vorausplanen und schließlich gut spielen können. Möglich wäre das natürlich gewesen. Aber nicht in Theresas Zustand, sie hatte ja kaum noch Kraft.«
»Hätten Sie ihr denn in einem körperlich besseren Zustand eine solche Täuschung zugetraut?«
»Theresa war eine Kämpferin«, wich sie einer Antwort aus.
»Haben Sie eigentlich ein Foto von ihr? Die einzigen Fotos, die nebenan stehen, zeigen ihren Mann. Und die Fotos, die ich in den Zeitungen gesehen habe, geben nicht viel her.«
»Moment, ich hole Ihnen eines.« Marianne Moser stand auf und kehrte kurz darauf mit einer kleinen Schachtel zurück. Sie zog ein Foto daraus hervor und legte es vor mich hin. »Das stammt noch aus guten Zeiten. Ich habe Theresa kennengelernt, als die schlechten längst angebrochen waren. Sie hat sich zwar immer sehr viel Mühe mit ihrer Kleidung und ihrem Make-up gegeben, aber nichts davon konnte darüber hinwegtäuschen, dass in ihrem Leben eine Bombe eingeschlagen war und sie schwer verletzt hatte.«
Ich betrachtete das Foto. Theresa Lenhardt sah aus, als sei sie vom Glück umweht. Alles an ihr war licht und strahlend. Ein paar Strähnen ihres hellblonden Haars fielen ihr ins Gesicht. Ihre Augen und ihre Zähne funkelten um die Wette. Ihr Lachen wirkte fröhlich und aufrichtig.
»Manchmal, wenn sie von ihrem Mann erzählte, kam dieses Strahlen wieder durch. Er muss eher introvertiert und nachdenklich gewesen sein, sie hat die unbeschwerte Fröhlichkeit mit in die Ehe gebracht.« Ihre Augen wurden feucht. »Es ist schon richtig so, dass man nicht weiß, was im Leben alles auf einen zukommt.«
Für zwei Wochen würde sie ihre Schwester in Ostholstein besuchen, hatte Frau Moser mir zum Abschied gesagt. Außerdem solle ich nicht vergessen, mir nebenan den Tisch anzusehen. Und ich solle gut auf mich achtgeben. Vielleicht sei doch ein Unschuldiger verurteilt worden, sicher könne man sich schließlich nie sein.
Diese Worte begleiteten mich in Theresa Lenhardts Esszimmer, das mit warmen Farben und weichen Stoffen eine gediegene Landhausgemütlichkeit ausstrahlte. Ich öffnete die Gardinen und ließ Tageslicht hinein. Dann trat ich an den Tisch, der eher für vier Personen konzipiert, aber für acht gedeckt worden war. Der Esstisch aus ihrer Villa im Betzenweg hatte vermutlich nicht in diesen Raum gepasst. Oder sie hatte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Das Klingeln des Telefons platzte in meine Gedanken. Ich lief ins Arbeitszimmer, nahm das Mobilteil von der Station und meldete mich. Wieder erhielt ich zur Antwort nur ein Atmen.
»Glückwunsch, atmen können Sie. Dann besteht ja die Hoffnung, dass Sie irgendwann auch noch das Sprechen lernen«, sagte ich, bevor ich die Verbindung unterbrach.
Zurück im Esszimmer, betrachtete ich den Tisch. Mit Porzellan, Kristallgläsern, Leinenservietten und Kerzen wirkte er festlich. In der Tischmitte war mit kleinen Glitzerherzen die Zahl vierzig gestreut worden. Anhand von Platzkarten konnte ich nachvollziehen, wer wo gesessen hatte: Theresa Lenhardt und ihr Mann jeweils am Kopf des Tisches. Das Ehepaar Angermeier und Rena Velte auf der einen Seite, die Lischkas und Tilman Velte auf der anderen.
»Was soll mir das nun sagen, Frau Lenhardt?«, fragte ich laut, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Wohnung. Drei Menschen, die an diesem Essen teilgenommen hatten, waren tot. Die fünf Überlebenden würden alles daransetzen, die Sache mit dem Erbe so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Und ich? Was sollte ich tun?
Ich setzte mich in mein Auto und schaltete den Motor ein. Beim Ausscheren aus der Parklücke fiel mein Blick auf einen kleinen Gegenstand, der direkt vor mir unter dem Scheibenwischer klemmte. Ich stieg wieder aus und zog ein noch eingeschweißtes Kondom darunter hervor. Ich blickte mich um und war mir ein paar Sekunden später sicher, dass ich die Einzige war, die ein solches Geschenk erhalten hatte. Konzentriert schickte ich meinen Blick die Straße hinauf und hinunter und weiter den parallel verlaufenden Weg am Kanal entlang. Der alte Mann, der fast genauso winzige Schritte wie sein übergewichtiger Mops machte, würde mir wohl kaum dieses Ding hier hinterlassen haben. Wahrscheinlich versteckten sich gerade hinter irgendeiner Hecke ein paar kichernde
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