Das verstummen der Kraehe
dahin für sich behalten habe, um meinen Mann nicht noch mehr zu belasten. Rena war auf der Toilette, als sie draußen im Flur die Stimme von Konstantin Lischka hörte. Er sagte: »Ich hab dich mit Ben Mahlo gesehen. Wie viel ist dir das wert?« Sie nahm an, dass Konstantin mit meinem Mann gesprochen hatte, denn als sie zum Tisch zurückkehrte, war er als Einziger nicht an seinem Platz. Als er zurückkam, habe er irgendwie blass ausgesehen.
Mit wem auch immer Konstantin gesprochen hat – es war nicht mein Mann. Fritz hat diesen Mord nicht begangen. Dessen bin ich mir ganz sicher!
Jetzt ist es an Ihnen, Frau Mahlo: Vielleicht gelingt es Ihnen, auf der Seite Ihres Bruders das Ende eines Fadens aufzunehmen und es mit dem Gast unserer Tafelrunde zu verbinden, den Konstantin an jenem Abend zu erpressen versucht hat.
Ich bin mir bewusst, was ich Ihnen damit aufbürde und dass ich Sie vielleicht sogar in Gefahr bringe. Aber Sie haben die Wahl: Sie können Nein sagen. Sollten Sie sich jedoch dazu entschließen, mein Testament zu vollstrecken, passen Sie gut auf sich auf, denn einer der fünf möglichen Erben ist ein Mörder.
»Das ist eine Finte, darauf gehe ich jede Wette ein«, sagte ich über mein Proseccoglas hinweg, streckte die Beine aus und legte die Füße auf die alte Holztruhe, die als Couchtisch fungierte.
Henrike lag mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem dunkelgrauen Stoffsofa, hatte sich zwei der bunten Kissen in den Nacken gestopft und drehte den Filter einer Zigarette zwischen den Lippen hin und her. »Wieso bist du dir da so sicher?«, nuschelte sie.
»Weil sich niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, bereit erklären würde, dieses Testament zu vollstrecken. Also musste sie ein Lockmittel finden.«
»Mir würden zweihunderttausend Euro als Lockmittel reichen.«
»Was hätte ich denn von der Aussicht auf dieses Geld, wenn sie tatsächlich den Falschen eingesperrt haben und ich dem Mörder in die Quere käme?«
»Du könntest mich als Bodyguard anheuern und an dem Geld beteiligen.«
»Und wenn es schiefgeht?«
»Dann beteilige ich mich an deiner Grabstätte.«
»Das ist makaber.«
»Ich finde, es wäre ein guter Deal. Aber mal im Ernst: Schätzt du diese Theresa Lenhardt so ein, dass sie deinen Bruder als Lockmittel benutzen würde?«
»Wie soll ich sie denn einschätzen können, ich kannte sie ja nicht einmal! Aus dem, was sie geschrieben hat, geht nur hervor, dass sie ziemlich verzweifelt gewesen sein muss. Das kann ich sogar verstehen.«
Henrike setzte sich auf und schenkte sich grünen Tee nach. Da sie eine genaue Vorstellung davon hatte, wie er schmecken sollte, bereitete sie ihn sich am liebsten selbst zu. Sie trank ausschließlich China Lung Ching, Drachenbrunnentee aus Zhejiang, den ich immer vorrätig hatte, benutzte gefiltertes Wasser und ließ es nach dem Kochen exakt auf achtzig Grad abkühlen. Ich war dafür meist zu ungeduldig.
»Selbst wenn du jetzt ablehnst, Kris, die Sache wird dir keine Ruhe lassen.«
»Ich werde ablehnen, so viel ist klar.«
»Warum?«
»Ich habe ja nicht einmal herausfinden können, was mit Ben geschehen ist. Wie soll ich denn da diese fünf Leute von einem Mordverdacht befreien? Das ist absurd.« Ich stellte das Glas auf der Truhe ab und setzte mich in den Schneidersitz.
»An deiner Stelle würde ich mit der Frau sprechen, die angeblich auf dem Flur etwas belauscht hat. Finde heraus, ob es stimmt, was diese Theresa Lenhardt in ihrem Brief behauptet.«
Ich schloss die Augen. Was, wenn dieser Satz tatsächlich an jenem Abend gefallen war? »Dann hätte diese Frau sechs Jahre lang geschwiegen«, flüsterte ich, »sechs Jahre, Henrike.« Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Hast du Angst davor, endlich zu erfahren, was mit deinem Bruder geschehen ist?« Sie beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab wie ein Kutscher und sah mich mit hochgezogenen Brauen an. »Es hat in all den Jahren keinen einzigen Hinweis auf seinen Verbleib gegeben. Vielleicht gibt es ihn jetzt.«
Ich sprang auf und lief im Zimmer umher. Vor einem der Bücherregale blieb ich stehen und lehnte meine Stirn dagegen. »Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das will. Alles wieder aufrollen …«
»Du könntest es zumindest versuchen.«
Ich ging zurück zum Sofa und ließ mich zwischen die Kissen sinken. »Heute hat mir bereits eine der potenziellen Erbinnen auf dem Hof aufgelauert. Sie meinte, die Testamentsvollstreckung
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