Das verstummen der Kraehe
befreundet.«
»So hat sie möglicherweise meinen Bruder gefährdet.«
»Das hat sie nicht, wie wir seit gestern nun wissen.«
Aber jahrelang hatte sie das annehmen müssen. Wie lebte es sich mit dieser Vorstellung? Irgendwann würde ich sie das fragen.
»Waren Sie eigentlich gut mit Fritz Lenhardt befreundet?«, fragte ich.
»Ja.«
»Waren Sie enttäuscht, dass er Ihnen als gutem Freund offenbar nichts von der Affäre mit Beate Angermeier erzählt hat?«
»Enttäuscht? Im Gegenteil, ich bin Fritz dankbar dafür. Er hätte mich in eine Zwickmühle katapultiert. Schließlich bin ich auch mit Christoph Angermeier gut befreundet.«
»Wie hat der eigentlich gestern auf die Eröffnung seiner Frau reagiert?«
»Wie reagiert ein Mann, wenn er erfährt, dass ihm Hörner aufgesetzt wurden? Mit solch einem Vertrauensbruch muss er erst einmal fertigwerden. Selbst wenn der Nebenbuhler nicht mehr lebt.«
Der Regen prasselte noch immer gegen die Fensterscheibe. Ich saß mit einem Becher Kaffee im Schneidersitz auf dem Sofa und streichelte Rosa, die sich neben mich gekuschelt hatte. Das Wort Nebenbuhler spukte mir im Kopf herum. Was, wenn Christoph Angermeier schon damals von der Affäre erfahren hatte? Und wenn er Fritz Lenhardt, dem sein Messer und sein Haar zum Verhängnis geworden war, auf perfide Weise aus dem Weg geschafft hatte? Wenn er den einen Freund umgebracht hatte, nur um den anderen im Gefängnis leiden zu sehen? Unwahrscheinlich!
Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Meine Mutter, die offensichtlich vom Einkaufen kam, stand vor der Tür. Sie hielt mir einen durchsichtigen Plastikbeutel hin, in dem ein weißer Briefumschlag und ein kleines Sträußchen mit blauen Blumen steckte. »Das klemmte unter deinem Heckscheibenwischer.«
Ich griff danach, aber sie zog ihre Hand zurück.
»Du machst doch nichts Unüberlegtes, Kris?«
»Wie meinst du das?«
Sie schob mich ins Büro und schloss die Tür, als stünden draußen im Flur Trauben von Menschen, die uns hätten belauschen können. »Simon wird vielleicht eines Tages seine Meinung ändern. Du hast Zeit.«
»Wovon redest du?«
»Davon, dass Simon im Gegensatz zu dir keine Kinder möchte.«
»Was hat das mit diesem Umschlag zu tun?«
Sie hob den Plastikbeutel vor mein Gesicht. »Das sind Vergissmeinnicht.«
»Mama, tut mir leid, aber ich verstehe überhaupt nichts.«
»Bandelst du mit einem anderen an, Kris? Sind der Brief und die Blumen von ihm?«
»Ach, daher weht der Wind«, sagte ich und musste lachen. »Du sorgst dich um deinen Traum-Schwiegersohn.«
»Ich sorge mich um dich. Ich weiß, wie sehr du dir ein Kind wünschst und dass dieser Wunsch mit Simon vielleicht nie in Erfüllung gehen wird.«
»Es gibt keinen anderen.«
»Und du denkst auch nicht darüber nach?«, fragte sie. Eine Mischung aus Angst und Unsicherheit stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Wovor hast du Angst?«
»Davor, dass sich etwas ändert.« Ihre Augen wurden feucht. »Seit das mit der Kerze geschehen ist, habe ich wieder ständig das Gefühl, gleich würde etwas Schlimmes passieren. Dabei ist vieles gut im Augenblick, und ich wünsche mir so sehr, dass es so bleibt. Du bist doch glücklich mit Simon, oder?«
»Ja, das bin ich.«
»Und da ist wirklich niemand, der …?«
»Nein, und jetzt gib mir bitte den Beutel.«
Sie hielt ihn mir hin. »Es steht kein Absender drauf.«
Ich betrachtete den Umschlag von beiden Seiten. Als ich ihn gerade öffnen wollte, hielt ich inne. Beim letzten Mal hatte ein Kondom unter dem Scheibenwischer meines Autos geklemmt. Sollte etwas Ähnliches aus dem Umschlag fallen, würde es um die Nachtruhe meiner Mutter endgültig geschehen sein.
»Warum machst du ihn nicht auf, Kris?«
»Hast du mir nicht mal gesagt, du würdest Mütter verpönen, die in den Tagebüchern ihrer Töchter …«
»Das da ist doch kein Tagebuch!«
»Und wenn doch?« Ich schob den Umschlag in die Gesäßtasche meiner Jeans. »Ich öffne ihn später. Erst muss ich noch einen wichtigen Anruf erledigen.«
»Du arbeitest zu viel.«
»Es ist ein dicker Brocken, den ich da auf den Tisch bekommen habe.«
Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, wartete ich einen Augenblick, ob sie noch etwas »vergessen « hatte. Aber sie klopfte nicht noch einmal. Ich ging zu meinem Schreibtisch und öffnete den Umschlag. Er enthielt zwei Fotos. Das eine zeigte mich am Fenster von Theresa Lenhardts Arbeitszimmer, auf dem anderen zog ich vor dem Haus das Kondom unter dem
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