Das verstummen der Kraehe
Scheibenwischer hervor. Das Gefühl, das die Fotos und das Vergissmeinnicht-Sträußchen in mir auslösten, war eine Mischung aus diffuser Bedrohung und Wut. Ich betrachtete die Aufnahmen genauer. Vermutlich waren sie aus einem Auto heraus aufgenommen worden, denn ich hatte dort außer dem alten Mann mit seinem übergewichtigen Mops keine Passanten entdecken können.
Ich warf die Fotos auf den Tisch. Waren sie die Zermürbungstaktik ungeduldiger Erben oder die unmissverständliche Drohung eines Mörders, der weiter unbehelligt bleiben wollte? Oder hatten sie womöglich überhaupt nichts mit Theresa Lenhardts Testament zu tun? Ich zerriss die Bilder und warf die Schnipsel samt Sträußchen in den Papierkorb. So leicht würde ich mich nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Ich nahm den dritten Rückruf in Angriff und wählte Nadja Lischkas Nummer. Ich wollte schon auflegen, als sie doch noch abhob. Sie klang gehetzt und erklärte mir, dass sie zwar gerade für ihre Kinder koche, den Herd jedoch schnell abschalten würde.
»Danke, dass Sie zurückrufen, Frau Mahlo«, sagte sie, als sie wieder ans Telefon kam. »Ich wollte mich unbedingt für meinen kleinen Ausbruch gestern entschuldigen. Manchmal gehen die Pferde mit mir durch.«
»Das finde ich einen sympathischen und sehr menschlichen Zug für eine Yogalehrerin.«
»Was für eine Vorstellung haben Sie von Yoga?«
»Eine ziemlich überirdische. Ich kann nicht glauben , dass mit einem tönenden Om alles von einem abperlt.«
Sie lachte. »Was tun Sie als Ausgleich zu Ihrem Job? Der ist doch sicher nicht immer einfach.«
»Hin und wieder klettere ich auf Bäume.«
»Auf Bäume? Wie ungewöhnlich!«
»Ich mochte schon als Kind solche Mutproben. Irgendwann habe ich dann festgestellt, dass ich sie immer noch mag. Außerdem braucht es Konzentration und Geschick, um bis nach oben zu gelangen. Ich würde Sie gerne etwas fragen, Frau Lischka«, wechselte ich das Thema. »Haben Sie damals etwas von dieser Affäre zwischen Beate Angermeier und Fritz Lenhardt geahnt?«
Ich konnte ihren Atem hören, aber sie schwieg. Dann holte sie tief Luft. »Theresa und Fritz waren für mich immer das Traumpaar schlechthin. Nicht in einem abgehobenen, sondern in einem realistischen Sinn. Sie hatten eine Beziehung, wie sie die wenigsten Menschen in ihrem Leben finden. Wenn ich die beiden zusammen erlebte, habe ich so viel Wärme zwischen ihnen gespürt. Ich hätte Fritz diese Affäre nicht zugetraut. Aber ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass er meinen Mann umbringen würde.«
»Darf ich Sie noch etwas fragen, Frau Lischka?«
Sekundenlang war es still in der Leitung. »Ich kenne Ihre Frage.«
Ich ließ ihr Zeit.
»Die Antwort lautet: ja. Ja, Konstantin wäre eine solche Erpressung zuzutrauen gewesen. Er hatte zwei Seiten, und eine davon war skrupellos.«
Wie lange war es her, dass ich die Stufen ins Dachgeschoss hinaufgestiegen war? Vier Jahre? Fünf? Am Anfang hatte ich die Zeit, die nicht für die Suche nach Ben und für die Nachlassverwaltung draufging, in seinem Zimmer zwischen seinen Sachen verbracht. Bis ich alles irgendwann so oft betrachtet hatte, dass ich im Schlaf alle Puzzleteile zu diesem chaotischen Bild hätte zusammenfügen können. Als mir das bewusst wurde, habe ich die Tür hinter mir ins Schloss gezogen und sie bis heute nie wieder geöffnet.
Ganz im Gegensatz zu meinen Eltern, die Bens Wohnung regelmäßig Besuche abstatteten. Meine Mutter, um einmal in der Woche zu putzen, zu lüften und frische Blumen hinzustellen, mein Vater, um sich auf Bens Sofa zu setzen und dort auf ihn zu warten. Damit sie sich dort nicht über den Weg liefen, hatten sie für ihre jeweiligen Besuche feste Tage verabredet.
Die Wohnungstür war nicht verschlossen. Ich öffnete sie, ging hinein und gab ihr einen Schubs, sodass sie wieder ins Schloss fiel. Damit die Flut von Erinnerungen an Ben mich nicht gleich wieder hinausspülte, versuchte ich, meinen Besuch hier oben rational und professionell anzugehen. Ich stellte mir die üblichen Fragen. Wonach roch es? Nach Parkettpflege und Zitronenreiniger. In welchem Zustand war die Wohnung? Sehr gepflegt.
Die Zimmer von Bens ehemaligen Mitbewohnern waren vor Jahren leer geräumt und frisch gestrichen worden. Sie rochen gut. Trotzdem öffnete ich die Fenster. Bad und Küche waren aufgeräumt. Auf dem Tisch in der Küche stand ein Strauß bunter Dahlien. An der Schwelle zu Bens Zimmer blieb ich stehen. Es war alles so, wie ich es in
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