Das verstummen der Kraehe
ehemaligen Mitbewohnern? Mit ihnen solltest du in jedem Fall noch einmal sprechen. Wenn man mit jemandem zusammenwohnt, bekommt man eine Menge über ihn mit.«
Ich schüttelte genervt den Kopf.
»Kris, sei nicht so ein Dickkopf. Informationen werden einem in den seltensten Fällen auf dem Silbertablett serviert. Du bist doch sonst immer diejenige, die am lautesten schreit, wenn es etwas zu tun gibt.«
»Das ist dann aber auch etwas Sinnvolles.«
Sie legte die Zeitschriften neben sich und fixierte mich mit ihrem Blick. »Wovor hast du eigentlich Angst? Was glaubst du zu finden? Einen Hinweis darauf, dass Ben kriminell war und deshalb untergetaucht ist?«
»Quatsch!«
»Selbst wenn es so gewesen wäre, wäre es in jedem Fall besser, endlich die Wahrheit zu erfahren.«
»Ben war nicht kriminell. Wie kommst du nur auf so eine absurde Idee?«
»Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe? Du musst alles für möglich halten, ohne Einschränkungen. Und das bedeutet auch, das Unmögliche zu denken. Du hast mir Ben als impulsiven Menschen beschrieben, der immer wieder einen Kick brauchte, um sich lebendig zu fühlen. So jemand überschreitet auch gerne mal eine Grenze.«
»Nicht die!«
»Wenn du dir dessen so sicher bist, kann ich ja in aller Ruhe diese Sachen hier durchsehen.«
Eine ganze Weile war nichts anderes zu hören als das Rascheln von Papier. Alles, was Henrike abgearbeitet hatte, drapierte sie entsprechend der Fotos auf ihrem Smartphone genauso, wie es zuvor dagelegen hatte. Sie verstand ihr Handwerk. Nach einer Weile waren wir mit allem durch.
»Ich hätte dir vorher sagen können, dass nichts dabei herauskommt«, sagte ich und spürte den Frust in mir aufsteigen.
»Durch unsere Jobs sind wir beide darauf getrimmt, die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Und wir wissen beide, dass man immer etwas übersehen kann.«
»Nicht, wenn es um das Leben des eigenen Bruders geht, Henrike. Dann bist du voll von Adrenalin, und all deine Sinne sind geschärft.«
»Als du Bens Sachen das erste Mal durchgesehen hast, hast du da Seiten an ihm entdeckt, die du bis dahin nicht kanntest?«
Ich wollte spontan verneinen, aber dann kam eine Erinnerung in mir hoch. Ich versuchte sie in Worte zu fassen. »Diese Suche hat eher einen Eindruck verstärkt, den ich in den Jahren zuvor immer wieder gehabt hatte. Ben hatte unglaublich breit gefächerte Interessen. Er war schnell zu begeistern, und manchmal hatte ich Sorge, er würde sich dabei verzetteln.«
»Du hast recht. Allem Anschein nach hat er neben seinem Studium mit mindestens fünf Projekten gleichzeitig jongliert: Er hat Sicherheitsnetzwerke für kleinere Unternehmen eingerichtet. Er hat in einem Innovationszirkel mitgemischt und war an einer Forschungsarbeit beteiligt. Er hat in einer Kneipe gejobbt und hat angefangen, Chinesisch zu lernen. Aber er hat seine Hausarbeiten nicht rechtzeitig abgegeben. Im Klartext heißt das für mich: Er hat auf zu vielen Hochzeiten getanzt.«
7
Die Zeiger des Weckers standen auf zwanzig nach vier. Seit einer Stunde lag ich wach und überlegte, wo es eine Verbindung zwischen Ben und dem Freundeskreis der Lenhardts gegeben haben könnte. Eine Verbindung, die der Kripo verborgen geblieben war. Beruflich deckte dieser Kreis das Kinderwunschinstitut ab, eine Unternehmensberatung, eine Gartengestaltung und eine Yogaschule. Bis auf Tilman Veltes Unternehmensberatung fiel nichts in Bens Bereich. Die Namen der Unternehmen, für die er Sicherheitssoftware entwickelt hatte, kannte ich immer noch auswendig. Tilman Veltes war nicht dabei. Und privat? Hatte möglicherweise einer der Männer ein Verhältnis mit Ben gehabt? Wenn ich Henrikes Strategie folgte und alles für möglich hielt, war es denkbar. Dann würde auch der Satz, der angeblich so nicht gefallen war, wieder Sinn machen. Ich hab dich mit Ben Mahlo gesehen , könnte in dem Fall bedeuten: Ich weiß, dass du homosexuell bist . Und Beate Angermeier hätte in diesem Fall gelogen. Des Geldes wegen? Oder hatte sie den Ruf ihres Mannes schützen wollen?
Vorsichtig schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Simon atmete im gleichen Rhythmus weiter, nur Rosa hob den Kopf, ließ ihn dann aber wieder sinken. Sie war längst daran gewöhnt, dass ich mitten in der Nacht aufstand und mich davonmachte. Ich tastete unter dem Bett nach den Flip-Flops und zog Simons Pulli über meinen Schlafanzug.
Draußen regnete es immer noch. Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss, achtete auf der nassen
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