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Das verstummen der Kraehe

Das verstummen der Kraehe

Titel: Das verstummen der Kraehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kornbichler
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Erinnerung hatte. Ben hatte es immer als kreatives Chaos bezeichnet, für mich war es schlicht Unordnung. Überall lag etwas herum, auf dem Bett waren Zeitschriften, Fachbücher und Notizhefte verstreut, genauso auf dem Sofa. Nur ein kleines Stück war frei. Dort saß mein Vater vermutlich, wenn er hierherkam und sich den Song »Speed of Sound« von Coldplay anhörte. Ben hatte sich das Lied zehnmal hintereinander auf eine CD gebrannt, sie steckte immer noch in der Stereoanlage.
    Über dem Fernseher hingen Jeans, ein T-Shirt und eine Socke. Die andere lag auf dem Boden daneben. Der Schreibtisch, eine auf zwei Holzböcken liegende Granitplatte in einer Nische des Zimmers, quoll über mit Uni-Unterlagen. Neben dem Schreibtisch war ein kleiner Abstellraum, die Tür stand offen. Ben hatte darin seine Kleidung und Schuhe in einem schmalen Regal untergebracht. Wobei hineingestopft den Anblick besser beschrieb. Meine Mutter musste es eine fast übermenschliche Anstrengung gekostet haben, hier nicht aufzuräumen. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie in der ersten Zeit vor allem hierhergekommen war, um Bens Geruch einzuatmen. Mit den Monaten habe er sich jedoch verflüchtigt, und erst dann habe sie sich getraut, in der Wohnung Putzmittel zu verwenden.
    Schließlich wanderte mein Blick über eine der Wände, die mein Bruder mit unzähligen Zeitungsausschnitten geschmückt hatte. Es war alles dabei – von Cartoons über Fotos bis hin zu skurrilen Todesanzeigen.
    Als ich hinter mir das Parkett knacken hörte, fuhr ich herum. Henrike stand im Flur und lächelte mich an.
    »Ich habe die Fenster offen stehen sehen«, sagte sie.
    Mit einer ausladenden Handbewegung zeigte ich einmal durch den ganzen Raum. »Hier etwas zu suchen, von dem man nicht einmal weiß, was es ist, ist kein Spaß, Henrike. Willst du es dir nicht lieber noch mal überlegen? Ich könnte deinen Rückzieher verstehen.«
    »Ich habe meinen Laden abgeschlossen und habe Zeit.« Sie stellte sich neben mich und betrachtete das Chaos mit angestrengtem Blick. Fast machte es den Eindruck, als würde sie jeden einzelnen Gegenstand scannen.
    Ich setzte mich in die Sofaecke und nahm mir einen Stapel mit Unterlagen vor.
    »Wieso sieht es hier so aus?«
    »Meinen Eltern ist es wichtig, dass alles so bleibt, wie Ben es zurückgelassen hat.«
    »Und woher wisst ihr, dass er es so zurückgelassen hat?«
    »Weil Ben das Wort Unordnung erfunden haben könnte.«
    »Aber zu dem Zeitpunkt, als er verschwand, warst du in Berlin, und deine Eltern waren in Frankenberg. Haben seine beiden damaligen Mitbewohner gesagt, dass er dieses Chaos veranstaltet hat?«
    »Für die beiden bestand gar kein Zweifel daran.«
    »Und für die Leute von der Kripo?«
    »Die hielten es für möglich, dass Bens Zimmer durchsucht worden ist. Auch weil sein Laptop fehlte. Aber das ist Unsinn. Ben hatte seinen Laptop immer dabei. Das Ding war sein ein und alles. Er hat nicht nur IT studiert, er war ein Computerfreak.«
    »Vielleicht ist er es immer noch, Kris.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ben ist tot.«
    »Warum bist du dann hier und durchsuchst seine Sachen?«
    »Weil wir erfahren müssen, was mit ihm geschehen ist. Sonst kommt keiner von uns jemals zur Ruhe.«
    »Dann lass mich das jetzt mal machen.« Sie schob sich die langen Ärmel ihres T-Shirts bis über die Ellenbogen hoch. »Ich habe all das hier noch nie zu Gesicht bekommen, deshalb habe ich mit Sicherheit einen anderen Blick darauf. Vielleicht hilft das.« Sie zog unter dem Bett einen offenen Pappkarton hervor und drehte ihn so, dass sich sein Inhalt über die Decke ergoss. Dann begann sie, zwischen Kabeln, Zusatzsteckern, leeren Colaflaschen und ausrangierten Fahrradschlössern zu wühlen.
    »Sei vorsichtig, Henrike, meine Eltern drehen durch, wenn hier irgendetwas verändert wird.«
    »Sie werden gar nichts davon merken.«
    »Wenn du so weitermachst, schon.«
    »Okay!« Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche und begann, das Gesamtgefüge und jeden einzelnen Haufen akribisch abzufotografieren. »Am besten schließt du die Fenster wieder, dann bekommen sie erst gar nicht mit, dass jemand hier oben ist.«
    Ich lief von Raum zu Raum und schloss die Fenster. Zurück in Bens Zimmer, sah ich Henrike eine Weile zu. Sie hatte sich inzwischen einen Stapel mit Zeitschriften vorgenommen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich dieses Chaos durchforstet habe. Aber ich habe nie etwas gefunden. Nicht den kleinsten Hinweis.«
    »Was ist mit seinen

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