Das verstummen der Kraehe
Holztreppe darauf, nicht auszurutschen, und lief durch den Garten Richtung Hof. Außer dem Regen waren nur die Geräusche der Autobahn zu hören. Im Hof galt mein erster Blick der Kerze. Sie brannte ruhig in ihrer schützenden Laterne. Ein Kribbeln im Nacken ließ mich den Schritt beschleunigen. Ich dachte an die Kondome und die Fotos und spürte gleichzeitig Wut darüber, dass es jemandem gelungen war, mich zu ängstigen. Erst im Treppenhaus atmete ich auf.
Nachdem ich mir trockene Sachen angezogen und einen heißen Kakao zubereitet hatte, kuschelte ich mich ins Bett und zog Elisabeth Weiß’ Schreibheft aus der Schublade. Sie und ihr Mann hatten ihren kleinen Laden aufgeben müssen, als die ersten Supermärkte entstanden und ihnen die Kunden untreu wurden. Sie suchten sich beide eine neue Arbeit, er in einer Schuhfabrik, sie als Haushaltshilfe. Anstatt in den Urlaub zu fahren wie ihre Nachbarn, legten sie jeden Pfennig fürs Alter auf die hohe Kante. Auf diesen Seiten änderte sich Elisabeths Ton. Ihre Erzählung bekam eine bittere Note und schien ein Vorzeichen zu sein für das, was das Leben noch an Leid für die beiden bereithielt. Ich schlug das Heft zu, verstaute es und lief hinunter ins Büro.
Es war kurz nach fünf, als ich mir aus meinem PC die Mailadressen von Bens ehemaligen Mitbewohnern heraussuchte. Matthias Schütze hatte damals BWL studiert. Er war ein Jahr jünger als Ben, inzwischen also neunundzwanzig. Nils Bellmann hatte wie Ben Informatik studiert und war im selben Alter. Ich schrieb beiden eine Mail, in der ich die Namen der möglichen Erben auflistete und fragte, ob sie jemals einen dieser Namen gehört hätten. Es könne sich möglicherweise eine neue Spur daraus ergeben und ich wäre ihnen dankbar, wenn sie sich die Zeit nehmen würden, um in Ruhe darüber nachzudenken.
Nachdem ich auf Senden gedrückt hatte, machte ich mich über die unerledigte Post her. Der oberste Brief stammte von einem Mitglied einer siebenunddreißig Köpfe zählenden Erbengemeinschaft. Der Mann boykottierte seit mehr als einem Jahr den Verkauf eines Grundstücks in Solln. Es hatte seinem dreiundneunzigjährigen Großonkel gehört, der dort jahrelang einsam in einem mehr als baufälligen Haus vor sich hin vegetiert und kein Testament hinterlassen hatte. Meine Erbensuche hatte ebenjene siebenunddreißig entfernten Verwandten zutage gefördert. Für das Grundstück lag das Angebot eines Bauträgers für zwei Millionen Euro vor. Jedem Erben würde es rund vierundfünfzigtausend Euro bescheren. Nur einer meinte, der Preis sei noch zu toppen, und wollte für seinen Anteil mindestens sechzigtausend Euro. Das Angebot der anderen, für diese fehlenden sechstausend zusammenzulegen, hatte er ausgeschlagen. Er war ein typischer Querulant, dem es ums Prinzip ging. Und das erläuterte er mir zum x-ten Mal auf drei eng beschriebenen Seiten. Der Mann war so unglaublich engstirnig, dass es schon wieder komisch war. Im Gegensatz zu mir war seinen Mitstreitern um das Erbe das Lachen längst vergangen.
Mit einem leisen Pling kam eine neue E-Mail an. Matthias Schütze hatte geantwortet. Ich war also nicht die einzige Schlaflose an diesem frühen Sonntagmorgen.
Liebe Kristina, bevor ich deine Mail geöffnet habe, war da einen kleinen Moment lang die Hoffnung, es gebe gute Nachrichten von Ben. Du schreibst, es gebe vielleicht eine neue Spur. Ich erinnere mich nur leider an keinen dieser Namen. Das heißt natürlich gar nichts. Ben könnte trotzdem einen von ihnen gekannt haben. Aber das weißt du selbst. Ich hätte dir gerne geholfen und wünsche dir viel Glück bei deiner Suche.
Ich lebe und arbeite übrigens inzwischen in Berlin, bin verheiratet und habe einen kleinen Sohn, der gerade zahnt und unaufhörlich auf dem Arm durch die Wohnung getragen werden will. Solltest du mal in der Nähe sein, komm vorbei, ich würde mich freuen. Lg, Matthias.
In diesem Moment kam die Mail an Nils Bellmann als unzustellbar zurück. Ich antwortete Matthias und fragte ihn nach Nils. Nur ein paar Minuten später war erneut das Pling meines Mailprogramms zu hören.
Hallo Kristina, Nils und ich haben uns nach unserem Auszug aus der WG völlig aus den Augen verloren. Wir hatten ohnehin nie viel miteinander zu tun. Ich habe nur mal gehört, dass er in München geblieben sein und Karriere gemacht haben soll. Wenn das stimmt, müsste er sicher über eine Suchmaschine ausfindig zu machen sein. Lg, Matthias.
Nils Spur aufzunehmen war nicht weiter schwer.
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