Das verstummen der Kraehe
herausgefunden, mit wem Ben befreundet war. An der Uni habe ich tagelang herumgefragt, nur um zu hören, was für ein netter Kerl mein Bruder war. Alle kannten ihn, aber angeblich hatte niemand näheren Kontakt mit ihm. Hat er irgendwelche krummen Sachen gemacht?«
»Dein Latte macchiato wird kalt.«
Ich nahm einen Schluck. »Nils, du kannst es mir ruhig sagen. Egal, was es ist – ich falle nicht gleich tot um.«
»Ich glaube, dass du viel zu sehr von dir ausgehst. Du bist anders als dein Bruder. Wenn du Freundschaften schließt, dann sind das wenige, und die sind intensiv. So schätze ich dich jedenfalls ein. Ben brauchte einfach nur viele Menschen um sich herum. Er wollte gar keine tiefen Verbindungen eingehen.«
»Meine Eltern haben die Hoffnung nie aufgegeben, dass Ben noch am Leben sein könnte.«
»Und du?«
»Wenn es so wäre, hätte er sich längst bei uns gemeldet.«
»Warum lässt du ihn dann nicht ruhen? Wem soll es nützen?«
»Wir müssen wissen, was mit ihm geschehen ist, Nils. Vorher werden wir nie zur Ruhe kommen. Fällt dir nicht noch irgendjemand ein, den ich nach Ben fragen könnte?«
»Es ist sechs Jahre her, Kristina.«
»Ihr habt zusammengewohnt. Nils, bitte.«
»Wir haben gemeinsam in einer WG gelebt. Zusammenwohnen ist etwas anderes.«
»Und warum habe ich dann das Gefühl, dass du mir etwas verschweigst?«
Er lachte und schüttelte den Kopf, als könne er nicht ganz glauben, was ich da gerade gesagt hatte. »Weil du dir nichts sehnlicher wünschst, als dass dir jemand etwas verschweigt. Dann hättest du endlich einen Anhaltspunkt. Aber den gibt es nicht.« Mit einer schnellen Geste winkte er die Kellnerin herbei. »Du bist eingeladen.« Er streckte ihr einen Zwanzigeuroschein entgegen. »Stimmt so.«
»Du hast dich verändert, Nils.«
»Und jetzt fragst du dich, ob dein Bruder sich genauso verändert hätte, stimmt’s? Ob auch er den Kapuzenpulli gegen ein Designerhemd eingetauscht hätte.« Er stand auf.
»Habt ihr nicht genau das damals verpönt?«
»Es kann ziemlich anstrengend sein, ständig darüber nachdenken zu müssen, wie man im nächsten Monat die Miete zusammenbekommt.«
»Und jetzt bekommst du sie zusammen.«
»Darauf kannst du wetten.«
Auf dem Heimweg schienen sich alle Ampelanlagen zu einer roten Welle verschworen zu haben. Einmal war ich versucht, noch schnell Gas zu geben, aber das Risiko, dabei Polizisten im Zivilfahrzeug ins Netz zu gehen, war in München zu hoch. Also übte ich mich in Geduld und versuchte, Simon zu erreichen. Er ging nicht an sein Handy. »Dann eben nicht«, murmelte ich vor mich hin und bog Richtung Pasing ab.
In der Straße, in der Theresa Lenhardts Privatdetektiv wohnte, hatte ich erst vor Kurzem einen Nachlass bearbeitet. Das im Vergleich zu den umstehenden Häusern winzige Einfamilienhaus war bereits an eine Immobiliengesellschaft verkauft, die auf dem Grundstück vier Doppelhaushälften plante.
Martin Cordes’ Detektei war fünf Häuser weiter in einer leicht heruntergekommenen Gründerzeitvilla mit rosa Anstrich untergebracht. Auf einem Schild aus gebürstetem Aluminium stand: Cordes – Private Ermittlungen . Den Klingelschildern nach zu urteilen, befand sich die Detektei im Erdgeschoss. Ich drückte und wartete. Als nichts geschah, gab ich dem halb geöffneten Tor einen Schubs und ging auf das Haus zu. Kurz vor der Treppe, die zur Eingangstür führte, bog ein Weg hinters Haus ab. Ich folgte ihm in einen Garten, der schon längere Zeit sich selbst überlassen worden war. Mit viel gutem Willen ließ er sich als verwunschen bezeichnen.
Auf der Rückseite des Hauses stand eine Terrassentür offen.
»Hallo?«, rief ich, wartete einen Moment und machte schließlich kehrt.
»Worum geht’s?« Die Stimme kam aus den Tiefen des verwucherten Gartens.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und hielt nach dem Mann Ausschau. »Ich suche Martin Cordes.«
»Sie haben ihn gefunden, aber es ist Sonntag«, kam es prompt zurück.
»Hätten Sie vielleicht trotzdem kurz Zeit für mich?«
»Folgen Sie dem Trampelpfad!«
Ich hatte alle Hände voll zu tun, in den Weg wachsende Äste wegzudrücken und gleichzeitig darauf zu achten, wohin ich trat. Schließlich gelangte ich zu einem kleinen Stück Rasen mit einer taubenblauen Hollywoodschaukel. Der Mann, der darauf saß, hatte die Beine ausgestreckt, sich ein Kissen in den Nacken geschoben und schaute mir über den Spiegel hinweg entgegen. Er war höchstens ein paar Jahre älter als ich,
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