Das verstummen der Kraehe
Nils«, meldete ich mich.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Auf der Türkenstraße. Und du?«
»Am Rotkreuzplatz. Worum geht es denn überhaupt, Kristina? Du hast geschrieben, du müsstest mich dringend sprechen.«
»Muss ich auch, aber nicht am Telefon. Ich komme auf dem Heimweg ohnehin über den Rotkreuzplatz. Wollen wir uns in der Eisdiele Sarcletti treffen? Ungefähr in zwanzig Minuten?«
»Okay, ich warte dort auf dich.«
Nadja Lischka hatte nicht geöffnet. Also waren wir unverrichteter Dinge wieder ins Auto gestiegen. Es war fast fünf, als wir es endlich durch den dichten Verkehr geschafft hatten. Nils saß an einem der hinteren Tische vor einer stilisierten Gebirgskulisse. Kaum hatten wir auf den weißen Schalenstühlen Platz genommen, nahm Nils einen Schluck von seinem Eiskaffee und musterte Henrike ziemlich unverhohlen.
»Henrike ist eine Freundin«, erklärte ich ihm.
»Was kann ich euch bringen?«, fragte der Kellner, der in diesem Moment an den Tisch trat.
Ich warf einen Blick in die Karte. »Einen Becher mit drei Kugeln bitte – Blutorange, Granatapfel und Rhabarber.«
»Für mich bitte grüner Tee, Mandel und Himbeere«, bestellte Henrike.
»Hast du nicht gesagt, du wolltest mich alleine sprechen?«, fragte Nils, als der Kellner fort war.
»Ich wollte nicht am Telefon mit dir sprechen.«
Er schien immer noch irritiert von Henrikes Anwesenheit.
Als wolle sie ihn noch zusätzlich provozieren, nahm Henrike das Zepter in die Hand. »Eigentlich ist die Sache schnell geklärt. Du hast Kristina von dem Jungen erzählt, der ihrem Bruder eine externe Festplatte übergeben hat.«
Nils lehnte sich zurück und fuhr sich durch die hellblonden Haare. »Das ist nicht euer Ernst, oder?« Er sah zwischen uns hin und her. Sein Blick blieb an Henrike hängen. »Was geht das dich überhaupt an?«
Henrike rückte ihren Stuhl ein Stück zurück, streckte die Beine aus, schlug sie lässig übereinander und schob die Hände in die Hosentaschen. »Stell dir einfach vor, Kristina hätte dir die Frage gestellt.«
Nils nahm seinen Eiskaffee und saugte die Flüssigkeit mit dem Strohhalm auf, bis nur noch Luft kam. Dann legte er einen Zehneuroschein auf den Tisch und stand auf. »Beim nächsten Mal lass sie besser zu Hause!« Mit wenigen Schritten hatte er den Ausgang erreicht.
Ich sprang auf und lief ihm hinterher. »Nils, warte bitte!«
An der Fußgängerampel hatte ich ihn eingeholt und hielt ihn am Arm zurück. »Beantworte mir nur eine Frage: Dieser Junge mit der Festplatte – hattest du den vorher schon einmal bei Ben gesehen?«
Er wich einen Schritt von mir zurück. »Nein.«
»Hattest du ihn überhaupt schon mal irgendwo gesehen? In der Nachbarschaft vielleicht?«
»Ich habe ihn damals zum ersten und letzten Mal gesehen.«
»Das heißt, du hast auch nicht mitbekommen, ob er die Festplatte wieder bei Ben abgeholt hat?«
»Da sie nicht unter Bens Sachen war, muss er sie ja wohl abgeholt haben. War’s das jetzt?«
»Wie sah er aus?«
Nils zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, daran erinnere ich mich nicht mehr.«
»Groß, klein, dick, dünn?«
»Ich sage doch …«
»Du erinnerst dich schließlich auch, dass er sechzehn oder siebzehn war.«
Er kam wieder näher, baute sich vor mir auf und kniff die Augen zusammen. »Dein Bruder kommt nicht wieder, Kristina. Lass es gut sein.«
Hinter ihm tauchte Henrike auf, sie hatte seine letzten Worte noch gehört. »Woher willst du wissen, dass Ben nicht wieder auftaucht?«
Ihm war anzusehen, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht auf sie loszugehen. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt, und seine Gesichtszüge glätteten sich. »Ich habe ein gutes Gespür für Wahrscheinlichkeiten.« Ohne ein weiteres Wort machte er auf dem Absatz kehrt und lief über die Straße.
Henrike räusperte sich.
»Den meintest du hoffentlich nicht, als du mir am Montagmorgen am See von dem Typ erzählt hast, der so völlig unbeschädigt vom Leben ist, oder?«
Ich konnte nicht anders als zu lachen. »Nein!«
»Das beruhigt mich!«
Simon, mein Vater und Arne standen um ein Weinfass herum, das als Stehtisch diente. Sie tranken Rotwein aus bauchigen Gläsern und waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie uns erst bemerkten, als wir uns zu ihnen gesellten. Die drei waren völlig verschwitzt, ihre T-Shirts hatten großflächige Schweißflecken.
»Anstrengende Sache, so eine Weinprobe«, meinte Henrike mit einem anzüglichen Grinsen. »Da kann man schon mal ins
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