Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
nicht ausstehen«, sagte Lea.
»Jetzt spielen wir aber keinen Shakespeare, oder?«, meinte Avishag.
»Ich find’ das ehrlich gesagt ziemlich schwul«, sagte Lea.
»Ja klar. Weil wir ja alle wissen, dass Hitler schwul war«, sagte Yael.
Die beiden anderen Frauen sahen sie an. Sie hatten Angst, und zwar am meisten vor sich selbst, weil sie ihr zuhörten.
»Und mit Hitler meine ich Shakespeare«, sagte Yael.
Und dann bat sie um Schlaferlaubnis.
Yael tauchte tief in ihren Körper hinein, um Schlaf zu finden. Sie stellte sich Meereswellen unter sich vor, die ihr Ruhe schenkten. Dann dachte sie an all die glücklichen Zeiten, wo sie auf dem Boden gesessen und den Titelmelodien ihrer Lieblingsfernsehserien gelauscht hatte, und erinnerte sich an all die Tränen, die bei den Titelmelodien im Abspann jeder Folge geflossen waren. Sie erinnerte sich an den Körper ihrer Kindheit, ein Erwachen, das von einer Wonne überflutet wurde, die ihr die Zehen krümmte und die Nase öffnete inmitten all der Träume, in denen sie von einem anderen Menschen in sicheren Gewahrsam genommen wurde. In ein abschließbares Zimmer mit einem Bett, in dem sie genährt und bedauert wurde.
In den Tagträumen, die sie im Geschichtsunterricht gehabt hatte, war es immer eine Mathematiklehrerin gewesen, die sie mitgenommen und versorgt hatte. Die Frau sah jedes Mal etwas anders aus: groß, blond, dunkel. In Wahrheit hatte sie nur Mathelehrer gehabt, Männer, die sie nicht gesehen hatten. Seit sie zu Schulzeiten Mean Girls gesehen hatte, stand das Bild der Mathelehrerin fest. Es war immer Tina Fey beziehungsweise die Mathelehrerin, die sie in dem Film spielte. Ich war ein blödes Mädchen, dachte Yael. Ich war ja dermaßen blöd.
Aber dann überlegte sie weiter. Und schlug die Augen auf.
»Mean Girls«, sagte sie, immer noch auf dem Boden liegend.
»Wir sollten nur reden, wenn wir auch was zu sagen haben«, sagte Avishag. »Meine Stimme ist geschwächt.«
»Ich hab’ was zu sagen. Erinnert ihr euch daran, dass die Mädchen in dem Film immer das Gegenteil von dem sagen, was sie meinen?«, fragte Yael und setzte sich auf.
»Amerikaner sagen immer das Gegenteil von dem, was sie meinen. Kuck dir bloß ihre Filme an. Alles Helden. Bloß weil sie keine echten haben«, sagte Lea. Ron hatte etwas gegen Amerikaner, seit er seine ersten Geschäfte mit ihnen gemacht hatte, und Lea hatte seine Einstellung übernommen.
»Genau«, sagte Yael. »Wir müssen ein bisschen amerikanisch werden. Wir müssen das Gegenteil von dem werden, was wir sind. Das wird die Jungen verwirren. Avishag, du lässt dein Selbstmitleid bleiben. Sag nie ›Entschuldigung‹ oder ›danke‹. Sag nur immerzu ›Das hab’ ich nicht verdient. Ich bin ein guter Mensch‹, und du, Lea, sagst das Gegenteil. Entschuldige dich. Danke ihnen. Lächle«, sagte Yael.
»Glaubst du, du könntest am Stockholm-Syndrom leiden?«, fragte Lea. »Ich frag’ ja bloß«, fügte sie hinzu. »Ich find’ das alles total spannend.«
»Nein«, sagte Yael ruhig. »Ich versuche, das Gegenteil zu bewirken. Die Jungen müssen das Lima-Syndrom entwickeln. Sie müssen lernen, uns ein bisschen zu lieben.«
»Aber wenn wir das Gegenteil von dem spielen, was wir sind, dann lieben sie doch nicht uns, wie wir wirklich sind«, sagte Avishag.
»Doch. Sie lieben, was wir sein können. Und wir können alles sein, was wir nur wollen«, sagte Yael.
»Jetzt klingst du schon fast wie der nationale Kinderkanal«, sagte Lea.
»Und deshalb liebst du mich«, sagte Yael und sah Lea an.
»Und deshalb liebt sie dich«, sagte Avishag.
Die Jungen kamen erst am Nachmittag wieder. Kurz davor fing Yael an zu weinen.
»Wisst ihr was?«, fragte sie. »Warum habt ihr mir eigentlich nicht gesagt, wie ich mich jetzt verhalten soll?« Sie schluchzte und zog sich an den Haaren.
Avishag und Lea schwiegen.
»Ich darf kein Geräusch von mir geben. Ich muss das Gegenteil von redselig werden«, sagte Yael.
»Gut«, sagte Lea.
»Warum weinst du dann jetzt so laut?«, fragte Avishag.
»Und bald werde ich vielleicht ein Song«, sagte Yael und stöhnte den anderen vier Ohren all ihr Wissen vor.
Der Container war fünf Schritte breit und sieben Schritte lang, und die Decke hing über den drei Frauen, die auf den Matratzen lagen.
Die Jungen kamen und die Jungen nahmen und die Jungen kamen und die Frauen waren, wer sie nicht waren. Das war sehr schwer.
Menschen starben im Nachkrieg: 6.422 Zivilisten und Soldaten in Syrien im Monat
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