Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
hat damit zu tun, dass ich jetzt, wo infolge der Schmerzen alle Menschen, die es nicht gibt, vom Monitor verschwunden sind, verstanden habe, dass ich mich nicht ewig auf sie verlassen kann. Dass ich damit anfangen sollte, an andere zu denken. Ich bin sehr konzentriert, weil ich nur noch ein paar Minuten Pause habe, um an andere zu denken. Ich schließe die Augen und versuche es mit dem Baby. Ich habe nie daran gedacht, es zu behalten, und die Ärztin hat auch nicht nachgefragt. Sie hat die Antwort als gegeben vorausgesetzt. Bei Soldaten wird immer alles als gegeben vorausgesetzt. Ich stellte mir vor, mit dem Baby all das zu machen, was ich als Kind gemacht habe, aber nach fünf Monaten Dienst vor einem grünen Monitor ist mein Gedächtnis dermaßen im Eimer, dass ich mich nicht besonders gut an meine Kindheit erinnern kann, nicht gut genug, um mir damit was Neues auszudenken, nicht gut genug, um den Geruch abzurufen. Im Moment rieche ich nur Schweiß und Blut. Das Einzige, woran ich mich gut erinnere, sind die Läuse. Also stelle ich mir vor, dass ich die Haare meiner Kleinen mit einem Nissenkamm kämme, aber das funktioniert nicht, weil sie kein Gesicht hat, als sie sich umdreht, sondern nur einen hautfarbenen leeren Kreis. Und ich glaube, meiner Tochter einen Kopf ohne Gesicht zu geben, ist das Gegenteil davon, sich für einen anderen Menschen zu interessieren, darum höre ich auf, mir vorzustellen, wie sie aussehen würde, und stelle mir vor, was sie jetzt gerade ist, und ich gebe mir die größte Mühe, mich schlecht zu fühlen. Ich reibe mir sogar die Augen und versuche zu weinen. Ich stelle mir mein Baby vor wie die Föten auf den Bildern in den Abtreibungsbroschüren, so groß wie ein Fingernagel und niedlich wie ein zusammengerolltes Alien; ich stelle mir vor, wie es glücklich in Blut und Fruchtwasser schwimmt, bis es plötzlich in ein starkes, beängstigendes Licht gepresst wird und weiß, dass es sterben muss. Aber das hat nichts mit Traurigkeit zu tun, sondern ist eher ein interessantes Gedankenexperiment, weil ich weiß, dass das Baby nicht wirklich weiß, dass es sterben wird. Dann versuche ich es mit den vielen Sudanesen, die jede Nacht am Zaun erschossen werden, und ich stelle mir vor, wie sie, die aus der Hölle kommen, mit Blasen an den Füßen ewig weit laufen, nur um dann zu sterben, aber ich habe nur noch zwei Minuten Pause, und außerdem ist es echt schwer, Mitleid mit ihnen zu haben, weil sie eben wie Afrikaner und anders als alle anderen Menschen aussehen, die ich je gesehen habe, und sie sind so extrem viele und sterben dauernd, und mein Bauch fühlt sich auch nicht mehr so schlimm an, und da merke ich, dass ein Persönlichkeitswechsel ziemlich schwierig ist.
Person B
Schnalzen, »Nicht gut«-Geflüster, wozu das alles, wenn ich nie … wenn ich nie all diese Millionen Dinge sein werde? Die Magie hatte gewonnen. Die Gedanken bestimmten alles; bald würde es mich nicht mehr geben. Meine getroffene Schulter war warm und nass, ich hörte nicht mehr so viele Schreie, und ich konnte den Zaun sehen. Den Mund voller Sand wartete ich darauf, dass es endlich vorbei war. Ich war nicht traurig; ich war erleichtert, gerettet. Ich drehte mich auf die Seite, nicht weil ich es wollte, sondern weil mein Körper mich dazu zwang. Ich zog die Beine an den Körper und umfasste die Zweige des gefällten Baumes. Das Kinn legte ich zwischen die Arme. Eine zusammengerollte Kreatur. Meine Schulter wurde wärmer. Dann fühlte sich auch die andere Schulter warm an, warm von der Berührung durch einen Menschen, der nicht ich war. Warm wie Vergebung, warm wie eine Mutter.
Person A
Auch nach der Pinkelpause kann ich auf dem grünen Monitor keine Menschen entdecken, die es nicht gibt. Die anderen Monitor-Mädchen sind alle ganz aufgeregt. Von Gali, mit der ich die Grundausbildung gemacht habe, erfahre ich, dass sie aufgeregt sind, weil wieder ein paar Sudanesen versucht haben, über den Zaun zu kommen, die Ägypter aber fast alle erschossen haben, bevor sie überhaupt merken konnten, dass sie schon ganz nah waren. In zehn Minuten kann viel passieren. Ich schließe die Augen, damit ich die Tränen noch mit den Lidern einfangen kann, bevor sie runterkullern. Ich weine, aber nur, weil ich im selben Moment einen stechenden Schmerz im Bauch spüre, anders als vorher, einen Schmerz, wie ich ihn nicht kannte, und ich denke, ganz sicher ist das Baby jetzt weg. Kurz schließe ich die Augen, und als ich sie wieder öffne, sind
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