Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
ich nur »la la la«, aber dann erkenne ich den Gebetsruf, der in meiner Kindheit jeden Morgen um fünf durchs Schlafzimmerfenster an mein Ohr gedrungen ist. Obwohl der Ruf von der Reise über die libanesische Grenze müde gewesen sein musste, war er laut hereingedrungen.
»La ilaha illallah«, singt der Mann. Es gibt keinen Gott außer Allah.
Die Angst, nicht zu sterben, ist größer als die Angst zu sterben. Mit Verbrennungen zu überleben, blind und nur noch eine Last. Nicht mehr laufen und nicht mehr allein aufs Klo gehen zu können. Dann lieber sterben. Es macht mir Angst, das alles so nah zu wissen, zu wissen, dass sich in wenigen Sekunden alles ändern wird und ich nicht weiß, wie ich mich darauf vorbereiten soll. An was von früher möchte ich mich erinnern?
In den Venen an meinem Hals puckert das Blut, und meine Finger zittern, als würde ich auf eine unsichtbare Tastatur einhämmern. Aber ich schreie nicht. Ich muss ruhig bleiben. Man muss immer ruhig bleiben.
Ich stelle dem Selbstmordattentäter eine Frage. Vielleicht antwortet er mir in perfektem Hebräisch; vielleicht passiert gar nichts.
»Sie fahren nach Tel Aviv, hm?«
»Ah-ha«, macht er. Nichts als Luft. Keine Wörter. Er schließt die Augen, wiegt sich weiter hin und her und singt. »La. La. La«, macht er mit dem sorgenvollen Mund.
Als der Bus aus dem Tunnel herauskommt und ihm das Licht wieder aufs Gesicht fällt, sieht es aus, als würden seine Wangen nach oben gesaugt, er sieht aus wie ein Dämon oder ein Heiliger.
Er ist nicht frisch rasiert. Wie war das noch mal, verlangt Gott von ihnen, dass sie sich vorher rasieren oder nicht? Ich hab’s vergessen. Ich denke, O. k., o. k., du musst eine Entscheidung treffen, also stehe ich auf und zwänge mich an ihm vorbei. Er wird wissen, was los ist, und explodieren. Jetzt gleich.
Aber nichts passiert. Er sieht mir nach, wie ich weiter nach hinten in den Bus laufe. Genau wie eine andere Person im Bus, eine Äthiopierin, die ihr Kind auf dem Arm hält, als hätte sie Angst, ich könnte ihm was antun.
Ich habe so viel Angst, dass ich mich auf die hintere Treppe setze und mich im Rhythmus der Schlaglöcher vor und zurück bewege. Ich habe so viel Angst, dass ich beim Mülleimer sitze, der voll ist mit Eis und Taschentüchern und Schalen von Sonnenblumenkernen. Ich ertrage sogar die Blicke der anderen Fahrgäste, die nicht verstehen, warum ich aufgestanden bin, die vielleicht noch nie Todesangst hatten, die noch nie Angst hatten, nicht zu sterben.
Aber ich habe nicht so viel Angst, dass ich etwas sage oder schreie. Ich habe maximal genug Angst, um vielleicht mein eigenes Leben zu retten. Ich bin noch nie eine Heldin gewesen.
Die ganze Zeit muss ich an Emuna denken. Mehr, als ich je an Avishag denke, obwohl wir jeden Tag telefonieren. Trotzdem. Ich flehe um Gnade und denke an gar nichts mehr; ich senke den Kopf und schließe die Augen. Und selbst dann denke ich noch an Emuna.
An einem der letzten Tage in der siebten Klasse fuhr meine Mutter meine Schwester und mich zur Schule, und unser Auto war genau hinter dem von Emunas Mutter. Meine Augen waren ausgetrocknet, und ich war wütend.
Ich konnte die zu einem Dutt hochgesteckten blonden Haare von Emunas Mutter sehen, und wie Emuna an dem roten Ärmel ihres Pullis kaute. Ich hatte noch den Geschmack der heißen Schokolade im Mund, die ich ein paar Minuten zuvor getrunken hatte. Die Bananenfelder waren alle ganz braun.
Damals gefiel mir das noch, die Autos und die Staus. Ich schaute gern auf die Autos vor uns, vor allem wenn ich die Insassen kannte, und ich fühlte mich als Glied dieser Kette, als Note in diesem Takt. Ich schaute auf ihr Auto und fand es gut, dass Emuna mich nicht sehen konnte.
In dem Moment sah ich ihn. Der Mann mit der Waffe war noch sehr weit weg. Er musste noch ungefähr fünf Minuten durch das Bananenfeld laufen, bevor er an der Straße war. Ich beobachtete, wie er immer näher kam. Ich machte keinen Mucks.
Das Auto von Emunas Mutter bewegte sich ein Stück vor und unser Auto rückte auf. Emuna kaute immer noch am Ärmel ihres roten Pullis. Ich sah sogar ihre Zähne – so gut konnte ich sie sehen.
Der Mann mit der Waffe trug ein Kufiya auf dem Kopf. Ich wusste schon da, dass er aus dem Libanon kam. Er war der erste Mann, der es seit dem Abzug des Militärs über die Grenze geschafft hatte. Ich hab es gewusst, das kann ich nicht leugnen.
Ich wusste, dass er auf der Jagd war, und ich steckte im Stau.
Emunas Auto
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