Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
wurden In- und Austrittswunde großzügig mit Jod desinfiziert, was verständlicherweise sofort wieder neues Gebrüll verursachte. Ich versuchte, Tommy mit ein paar Geschichten abzulenken, und erzählte ihm lachend, was mir schon so alles passiert war, aber das schien ihn nur noch mehr aufzuregen. Der Arzt verstand zwar nicht, was ich erzählte, aber auch er schüttelte irgendwann seltsam den Kopf, und darum schwieg ich schließlich.
Von diesem Tag an verließ mein Sohn sein Zelt so gut wie gar nicht mehr, und die einzigen Lebenszeichen waren das leise Scharren der Legokiste und das unterdrückte Kreischen vom Pumuckl aus seinem kleinen Kassettenrekorder. Eigentlich kam er nur zum Essen raus oder wenn er aufs Klo musste. Oder wenn er neue Batterien für seinen Kassettenrekorder benötigte.
Ach ja, eines möchte ich doch noch hinzufügen: Dass ich selbst an einem der letzten Tage in einen solchen Seeigel trat, dessen Stacheln sich durch die Flosse hindurch in meinen Fuß bohrten, hat die gesamte Familie natürlich nicht einmal ansatzweise in dem Maße wahrgenommen wie die angeblichen Traumata unseres Sohnes. Ich will hier nicht jammern, und natürlich ist es etwas völlig anderes, wenn so etwas einem Kind passiert. Aber ich bilde mir schon ein, dass ich in dem Alter etwas gleichmütiger reagiert hätte als unser Tommy.
Ehrlich gesagt blickte ich eher mit einer Mischung aus Schmerz und Faszination auf die drei Stacheln, die da oben aus meiner Flosse ragten, und ich glaube, dass mir das als kleiner Bub auch nicht viel anders gegangen wäre. Ist es nicht unglaublich, wie sich die Natur gegen ungleich größere Gegner zur Wehr setzen kann? Und wo erlebt man denn solche Momente noch, wenn nicht beim Wildcamping? Wo steckt der Reiz, in einem Swimmingpool zu tauchen? Abgesehen davon, dass man da nichts sieht außer Kacheln und walrossgleichen Hinterteilen, fehlt doch da dieser wohlige Nervenkitzel des Unbekannten, ja, des Gefährlichen! Das Einzige, was einem da passieren kann, ist, dass einem der dicke Hintern den Schnorchel versperrt. Man fährt doch in den Urlaub, um etwas zu erleben, um Grenzen auszuloten, wieder so etwas wie Spannung und Aufregung zu empfinden! Herumliegen und lesen kann man wirklich besser daheim auf der Couch. Wobei ich da auch einen Ausflug auf dem Rennrad vorziehen würde, aber das ist ein anderes Thema.
Auf jeden Fall sparte ich mir den Weg zum Arzt mit meiner Verletzung, da dieser sowieso nur die Stacheln herausgezogen und das Ganze mit Jod aufgefüllt hätte. Das konnte ich mit dem immer griffbereiten Werkzeug aus dem VW-Bus auch sehr gut selbst erledigen, und Jod fand sich natürlich im Verbandskasten. Leider zerbrachen dabei die Stacheln in meinem Fuß an mehreren Stellen, was die tagelange Heimfahrt nicht gerade angenehmer machte.
Noch Wochen später, als wir schon längst wieder zu Hause in München waren, wurde ich jedes Mal, wenn mir wieder ein Stückchen Stachel aus der Ferse eiterte, erinnert an diesen denkwürdigen Urlaub am urigen kroatischen Meer.
Dieser erste unverhofft erhellende Beitrag meines Vaters zu dem geplanten Werk überzeugte mich vollends, den Ansatz eines herkömmlichen »Comedian meckert über populäres Thema«-Buches zu überdenken. Da ich angesichts der Geschichten ohnehin ein massives Glaubwürdigkeitsproblem am Horizont aufziehen sah, erschien es mir zunächst auch als ein geeigneter Garant für mehr Authentizität. Das wurde schnell zunichtegemacht, denn so manche Begebenheit wurde durch die Erinnerungen meines Vaters erstaunlich effektiv verschlimmert.
Ab sofort unterstützte mein Vater mich also mit seinen Reminiszenzen, und auch seine Ex-Frau und meine leibliche Mutter Karin steuerte die eine oder andere traumatische Erfahrung bei. Bald wurde klar, dass sich auch ihr die Faszination lebensbedrohlicher Grenzerfahrungen nicht immer vollumfänglich erschlossen hatte. Wir schwankten bei unseren gemeinsamen Erinnerungssessions zwischen Lachen, Euphorie und ungläubigem Staunen. Aus diesen Treffen stammen auch die Fotos, Dias und eher matschigen Blow-Ups aus den alten Super-8-Filmen, mit denen wir später alles dokumentierten.
Die folgende Geschichte ist ein gutes Beispiel für die kollektive Erinnerung der gesamten Familie. Erst durch das Gespräch wurde aus bruchstückhaften Bildern hoher Wellen und einem seltsamen Gefühl drückender Hitze mit einhergehendem Schwindelgefühl und jäher Dunkelheit ein zusammenhängendes Stück Vergangenheit, das ich Ihnen auf
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