Das Wahre Kreuz
Gegenstück hat, gleich einem Spiegel-bild.« Mein Zeigefinger stieß auf den Plan hinunter.
»Dieser Raum aber hat kein Gegenstück! Wenn man unten durch die Anlage wandert, fällt es einem nicht auf, aber dieser Plan offenbart das Geheimnis.
Nun frage ich Sie, weshalb ist das so? Wo sich die unbekannten Erbauer der Anlage doch solche Mühe gegeben haben, alles genau symmetrisch zu halten!«
Er studierte den Plan, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Du hast recht, Bastien, wahrlich, du hast recht.
Dort muß es einen verborgenen Raum geben!«
Eilig zog er sich an und rief die Soldaten zusammen, die über die Störung ihrer Abendruhe wenig erfreut waren. Aber da wir unter der Erde ohnehin auf Fackeln und Lampen angewiesen waren, spielte es keine Rolle, zu welcher Tageszeit wir hinabstiegen.
Nachdem er eine Sonderration Schnaps versprochen hatte, konnte Onkel Jean einen freiwilligen Arbeits-trupp zusammenstellen. Mit Schaufeln und Hacken bewaffnet, drangen die Männer in den Tempel ein.
Allen voran gingen mein Onkel und ich, so voller Ungeduld und Neugier, daß wir am liebsten gerannt wären. Dank meines Plans gelangten wir schnell zu der Stelle, wo wir den geheimen Raum vermuteten. Ich hob eine Laterne, um für besseres Licht zu sorgen. Nichts, nur nacktes Felsgestein, wie es schien. Wir suchten nach einem verborgenen Mechanismus, einer Geheim-tür, ohne Erfolg.
Mutlos ließ ich die Laterne sinken und lehnte mich rücklings gegen die Wand auf der anderen Seite. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, das mit der Symmetrie. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob es hier einen Raum gibt.«
Unverständlicherweise leuchteten die Augen meines Onkels auf. »Die Wand!«
»Was meinen Sie?« fragte ich leise.
»Die Wand, an der du lehnst, ist viel rauher als die gegenüber. Die sieht aus wie künstlich geglättet. Als wäre ein Loch in den Fels geschlagen und dann wieder verschlossen worden.«
Er wandte sich an die Männer mit den Hacken.
»Schlagt mir ein Loch in diese Wand!«
Die Soldaten führten den Befehl aus, und das stumpfe Geräusch ihrer auf Stein treffenden Werkzeuge er-füllte den Gang. Staub wirbelte auf, ließ uns husten und trieb uns Tränen in die Augen. Aber dann hatten sie tatsächlich ein Loch in den Fels geschlagen. Ein Loch, das schnell größer wurde. Mein Onkel hatte recht. Diese Mauer war von Menschen errichtet worden. Dahinter lag der Eingang zu dem verborgenen Raum.
Ich trat hinter Onkel Jean durch die Öffnung und hob erneut meine Laterne. Wir blickten uns neugierig um. Vor uns sowie links und rechts erhoben sich schwere hölzerne Bücherschränke, die bis zur Decke reichten. In den offenen Fächern lagen und standen Bücher, von kleinen, handlichen Bänden bis hin zu schweren Folianten.
»Eine Bibliothek«, entfuhr es mir.
Mein Onkel warf einen Blick auf den Mauerdurchbruch. »Aber keine öffentliche.«
Er zog ein Lederetui aus der Rocktasche und entnahm ihm seine Brille. Nachdem er sie aufgesetzt hatte, griff er wahllos ein Buch heraus und schlug es auf. Un-möglich zu sagen, wie lange es schon hier gestanden hatte. Aber es befand sich in einem guten Zustand.
Ich beugte mich zu meinem Onkel hinüber. »Arabische Schrift, nicht wahr?«
»Auf den ersten Blick sieht es so aus. Von rechts nach links geschrieben und mit dem Großbuchstaben jeweils am Ende des Wortes, will mir scheinen. Aber obwohl ich mich mit der arabischen Schrift beschäftigt habe, kann ich nichts davon lesen.«
»Wie ist das möglich?«
»Vielleicht handelt es sich um eine bisher unbekannte Abart der arabischen Schrift, vielleicht aber auch um eine Verschlüsselung. Wir brauchen einen Experten, am besten Professor Ladoux vom Ägyptischen Institut.
Eigentlich müßte er derzeit in Kairo sein.«
»Dann werde ich gleich morgen dorthin aufbrechen, um ihn zu holen«, schlug ich vor.
»Ein einfacher Bote würde es auch tun.«
»Wenn Sie mich schicken und mir einen entspre-chenden Brief an General Bonaparte mitgeben, wird das sicher mehr Gewicht haben.«
Onkel Jeans Mund verzog sich zu einem Grinsen.
»Und bei dieser Gelegenheit könntest du auch die schöne Ourida wiedersehen, oder? Nun gut, du hast dir eine Belohnung verdient. Ohne dich und deinen wachen Verstand hätten wir diese Bibliothek wohl niemals entdeckt. Also reitest du morgen früh mit einer Husaren-eskorte nach Kairo!«
Glücklich begab ich mich an diesem Abend zur Ru-he. Noch lange ließ die Aussicht auf das Wiedersehen mit Ourida mich
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