Das Wahre Kreuz
Greifen nahe war.
»Du hast es gesehen, Musâfir, das kannst du nicht verhehlen«, fuhr Jussuf fort. »Ich habe es auch gesehen.
Und ich habe die Toten gesehen, Männer, Frauen und Kinder. Die Kreuzritter haben unter ihnen gewütet wie Bestien, haben ihren über Jahrhunderte aufgestauten Zorn an ihnen ausgelassen. Es hat ihnen nicht genügt, ihren Opfern das Leben zu nehmen. Sie haben die Toten geschändet, bis kein Leichnam mehr unversehrt war, bis nur noch ein blutiger Haufen aus zerstückelten Leibern, abgetrennten Köpfen und Gliedern übrig war.
Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun?« Er hob die Arme, blickte in den Himmel und stieß hervor: » Allâh bjariff – Gott weiß es!«
»Wir haben das Blut gesehen, aber keine Leichen«, sagte ich und war in Anbetracht dessen, was Jussuf da schilderte, froh darüber.
»Wir waren gewarnt worden; Rabjas Vater hatte den Kreuzrittern das Geheimnis der unterirdischen Zuflucht verraten. Aber meine Krieger und ich kamen zu spät. Wir konnten nur noch die Toten bergen, um sie würdig zu bestatten.«
Ich warf einen kurzen Blick auf Rabja, die unbeteiligt neben uns stand, da sie unserem auf französisch geführten Gespräch nicht folgen konnte. »Dieser Verrat. Wieso hat Rabjas Vater das getan?«
»Unser Stamm, die Abnaa Al Salieb, kämpfen seit Jahrhunderten gegen die Kreuzritter. Manchmal, will mir scheinen, vergessen einige, wofür wir kämpfen, und ein Kampf nur um des Kampfes willen kann ermüdend sein. Ich kann es nur vermuten, aber vielleicht war Rabjas Vater müde. Ich weiß nicht, was unsere Feinde ihm versprochen haben, ob Geld und Ruhm oder ein Ende des Kampfes. Er wird es uns nicht mehr sagen können.«
»Ist er …«
»Tot. Ja, Musâfir, das ist er. Unter den Leichen waren auch die seine, die seiner Frau und die seines Sohns.
Das ist der Lohn, den er von den Kreuzrittern erhalten hat.«
»Und Rabja?«
Jussuf sah zu dem Mädchen, und seine Züge ent-spannten sich. »Die Toten haben sie beschützt. Sie lag unter einem Berg aus zerstückelten Leichen, und die Kreuzritter haben sie übersehen. Rabja war vollkommen unverletzt, jedenfalls äußerlich. So sind es zwei, die dem Tod entronnen sind.«
»Zwei, wer noch?«
»Aber, Musâfir, willst du nicht offen sein? Du selbst bist doch einer von denen gewesen, die Ourida gerettet haben. Dafür gebührt dir mein Dank, unser aller Dank!«
»Also gehört Ourida zu euch.«
Jussuf nickte. »Und darüber solltest du froh sein. Es war ihr Wunsch, daß wir auf dich achtgeben. Nur deshalb konnten wir eingreifen, bevor die Kreuzritter auch dich töteten.«
»Wärt ihr etwas früher gekommen, hätten auch meine Begleiter überlebt.«
»Wir kamen, so schnell es uns möglich war. Der Chamsin hat seine eigenen Gesetze.«
Was Jussuf mir da eröffnet hatte, war erhellend und verwirrend zugleich. Ich dachte eine Weile darüber nach, und plötzlich schlug mein Herz schneller.
»Du hast gesagt, Ourida hätte euch gebeten, mich zu retten. Ist sie hier, im Lager?«
»Nein, sie ist noch in Kairo. Aber sie hat mir ihren Wunsch übermittelt.«
»Wie?«
Jussuf lächelte wie ein Schulmeister, der sich über die Wißbegier des Zöglings freut und zugleich weiß, daß dessen Möglichkeiten, ihn zu begreifen, begrenzt sind.
»Ihr Europäer habt allerlei Mittel und Wege ersonnen, um Botschaften zu übermitteln, mit Kurieren, mit Post-schiffen und jetzt sogar mit einer Einrichtung, die ihr Telegraphie nennt. Ihr seid so mit neuen Erfindungen und Apparaten beschäftigt, daß ihr eure inneren Fähigkeiten vergeßt.« Er deutete auf seine Stirn. »Der Mensch ist auch ohne Hilfsmittel in der Lage, Botschaften derer zu empfangen, denen er sich verbunden fühlt.«
Ich muß gestehen, daß ich ihn nicht ganz verstand, aber mir erschienen auch andere Dinge wichtiger. Was konnte er mir über Ourida sagen? Ich bestürmte ihn mit Fragen.
»Mir ist klar, daß Fragen in dir bohren wie Würmer in altem Holz, Musâfir, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Laß uns morgen in aller Ruhe miteinander sprechen, dann bist du hoffentlich auch schon kräftiger. Einstweilen möchte ich dich bitten, dich etwas um Rabja zu kümmern. Ich habe sie in meinem Zelt aufgenommen, aber ich fürchte, die alte Muna und ich sind für sie nicht die beste Gesellschaft. Du könntest Rabja etwas von deiner Sprache beibringen. Wir Abnaa Al Salieb haben erkannt, daß die meisten Kriege aus Unverständnis entstehen, aus Angst vor dem
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