Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
wäre sie nicht das gewesen, was sie war – nun, vielleicht wäre es gelungen, sie zu retten. Aber sie war nun einmal, was sie war. Genauso wie du bist, was du bist, und zwar bestimmt kein Nekromant aus Himaggerys Domäne.«
Chance trat vor, um ihr einen Becher Tee anzubieten, sein greises Haupt schief zur Seite gelegt wie ein zerrupfter Vogel, die Augen krähenhaft neugierig. Er entschuldigte sich und fing mit Erklärungen an. Ich empfand keinen Stolz über die List, die ich zustande gebracht hatte, obwohl die Heilerin darüber auf gewisse Weise belustigt wirkte. Ich wäre auch belustigt gewesen, wenn die List Erfolg gehabt hätte. Statt dessen fühlte ich mich innerlich leer.
»Was ist mit mir passiert?« fragte ich.
»Es war, als wärst du selbst das Mädchen«, antwortete die Heilerin. »Von einem Pfeil getroffen, tödlich verwundet. Aber du hast nicht die geringste Wunde. Bist du mit ihr verwandt? Nein, natürlich nicht. Wie dumm von mir! Sie war ja eine Unveränderliche. Was hat sie dir bedeutet?«
Ich gab keine Antwort, denn ich wußte es nicht. Der Augenblick verstrich. Was hatte Tossa mir bedeutet? Chance murmelte etwas, um Tossa näher zu beschreiben, daß sie unsere Führerin gewesen sei, eine flüchtige Bekanntschaft, Tochter des Governeurs der Unveränderlichen (Seidenhand zog scharf die Luft ein, als sie das hörte.) Was hatte sie mir bedeutet? Ich geriet in Panik, denn ich konnte mich zwar an sie erinnern, fühlte aber nichts dabei, überhaupt nichts. Die Heilerin bemerkte meinen erschrockenen Blick und legte die Hände auf mich. Plötzlich kehrte alles zurück, der Schmerz des Verlustes, die Todesangst.
»Willst du es ertragen?« fragte sie. »Oder soll ich es heilen?«
Zu diesem Zeitpunkt erschien es mir schlimmer als alles andere, von dem Schmerz geheilt zu werden, während Tossa unbeweint dalag. Ich sagte: »Laßt es mich ertragen – wenn ich kann.« Ich war nicht sicher, ob ich es vermochte.
Sie trugen ihren Körper, der fest in Decken gewickelt war, um ihn gegen Vögel und wilde Tiere zu schützen, zu den Bäumen hinüber, begruben ihn dort unter einem Steinhügel und hinterließen für diejenigen, die Tossa finden würden, eine Nachricht an ihren Vater. Chance schlotterte vor Angst bei dem Gedanken, wie der Grimm dieses Mannes uns verfolgen würde; man sagte von den Unveränderlichen, daß sie furchtbar in ihrem Zorn seien. Wir machten uns zur Ruine auf, während ich weinte und es mich wie Messerstiche schmerzte, wenn ich Luft holte. Sie war ein Mädchen gewesen, bloß ein Mädchen. Gewesen. Vorbei. Ich konnte eine Welt nicht begreifen, in der so etwas passieren und der Schmerz darüber so wirklich sein konnte. Ich hatte Tossa noch nicht einmal richtig gekannt. Nun war ich der einzige, der um sie trauerte. Das war noch schrecklicher als ihr Tod.
Die Heilerin stieß einen lauten Ruf aus, als wir uns der Ruine näherten. Während die anderen außen herum gingen, durchquerte ich das verfallene Gemäuer, um mein Hemd zu holen. Meine List war zwar entdeckt worden, aber es war ein gutes Hemd, und ich beabsichtigte nicht, es einfach liegenzulassen. Meinem Gedächtnis war entfallen, welchen Weg ich in der Nacht zuvor genommen hatte, und deshalb erreichte ich diesmal den Fensterspalt von der anderen Seite. Plötzlich vernahm ich ein scharfes, warnendes Knacken, der Boden tat sich unter meinen Füßen auf, und ich plumpste unversehens in eine staubige Grube, wo mein Kopf mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden aufprallte. Als ich mich betäubt hochrappelte, stellte ich fest, daß ich mich in einem Keller oder einem tiefer liegenden Geschoß befand, in dem es nach Staub und Ratten roch. Überreste halbverrotteter Holzregale mit modrigen Büchern lehnten schief an den Wänden. Ich spürte etwas Kleines unter meiner Fußsohle.
Als ich es aufhob, bemerkte ich noch mehr davon, so daß ich mich schließlich hinkniete, um alles aufzusammeln. Es handelte sich um winzige Spielfiguren, nicht größer als mein kleiner Finger, aus Holz oder Knochen geschnitzt, so filigran wie Spitze und unversehrt vom Zahn der Zeit. Dicht daneben lagen Teile eines vermoderten Spielbretts, außerdem ein winziges Buch. Ich hob es ebenfalls auf, gerade als ich Chance von oben rufen hörte.
Hinterher wunderte ich mich, warum ich es so eilig gehabt hatte, den Fund zu verbergen und in meine Gürteltasche zu stecken. Verständlicher wäre doch gewesen, es laut hinauszutrompeten, voll Stolz auf meinen neuen Besitz. Ich überlegte
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