Das Weisse Kleid Des Todes
durch das Hauptportal hinauszugehen, inspizierte Clare die Menge und versuchte das Stimmungsbarometer zu lesen. Einer ihrer Lehrer, Reverend Malcolm Steptoe, hatte darauf gepocht, dass es wichtig sei, die Gemeinde als Ganzes zu betrachten. »Ständig werden Sie einzelne Personen und Kleingruppen treffen«, sagte er immer wieder. »Aber ein Mal die Woche haben Sie Gelegenheit, die Familie vereint zu sehen. Ist sie zufrieden? Unzufrieden? Verstimmt? Das müssen Sie wissen!«
Momentan, am Ende der Eucharistiefeier, schienen etliche aus Clares Familie höchst verärgert. Und das lag nicht an ihrer Predigt über Cody, denn diese war eine straffe, gelungene Ansprache gewesen, in der sie das Baby mit dem Jesuskind verglich und sein Warten auf eine Familie mit dem christlichen Warten auf die Ankunft des Herrn. Das ergab einen hübschen nahtlosen Übergang zu Clares Aufruf um Hilfe für die Burns. Und das Ganze dauerte keine Viertelstunde – immer ein Pluspunkt für eine Predigt.
Das letzte Chormitglied durchquerte den Altarraum. Nathan Andernach, der Diakon, folgte Schulter an Schulter mit Sabrina Campbell, der heutigen Vorleserin, und Clare trat ans Ende der Reihe. »Der König wird kommen, wenn der Morgen graut«, intonierten Chor und Gemeinde, »zu enden die dunkle Erdennacht.« Die drei Letzten in der Prozession schritten die Treppe hinab, durch das Altargitter und in den Mittelgang. »O lasse bald anbrechen jenen Tag, den Tag, der da ewig währen soll.« Von ihrem unumstrittenen Platz in der vordersten Bank warf Mrs. Marshall einen Blick auf Clare, der besagte: So nicht , junge Dame!
Nein, es lag ohne Zweifel an den beiden Polizeibeamten im Eingangsbereich der Kirche. Zwischen Ankündigungen, Aufrufen zu Spenden für die Suppenküche und zur Mithilfe beim Ausschmücken der Kirche für Heiligabend hatte Clare die Sachlage so knapp wie möglich umrissen und um Unterstützung für Chief Van Alstyne gebeten, der von seinem Platz in der letzten Bank aufgestanden war und der Menge mit ernstem Gesicht zunickte. Gemurmel war zu hören – unterbrochen von Kollekte und Eucharistie. »Lass beginnen die ewige Seligkeit, wie von weltmüden Heiligen prophezeit«, sang die Gemeinde. Sterling Sumner wickelte seinen Schal um den Hals und warf Clare einen erbosten Blick zu, als sie an seiner Bank vorüberzog. »Wenn Recht über Unrecht frohlocken soll und die Wahrheit gepriesen sei.« Vaughn Fowler betrachtete leicht stirnrunzelnd die Gemeinde. Wahrscheinlich suchte er diejenigen heraus, die das Foto einer Leiche am meisten verstören würde.
An der Rückwand der Kirche teilte sich der Chor in zwei Reihen. »Der König wird kommen, wenn der Morgen graut, und bringen Licht und Herrlichkeit.« Sein harmonischer Gesang übertönte die Stimmen der Gottesdienstbesucher. Russ Van Alstyne sang mit, während seine Finger unter den Textzeilen entlangfuhren. Na, sieh mal einer an! Hübscher Bariton obendrein, soweit Clare ihn trotz des Chors hören konnte. »Heil dir, Christus dem Herrn! Die Deinen flehen dich herbei, König der Könige.«
Clare hielt mit einer Hand das reich bestickte, bodenlange Messgewand ein Stück hoch – ein Mantel priesterlicher Autorität –, damit sie beim Umdrehen nicht hängen blieb. Sie holte tief Luft und ließ die Worte aus ganzer Seele hervorströmen: »Gehet hin in Frieden, den Herrn zu lieben und ihm zu dienen«, sagte sie mit so viel Inbrunst, dass ihre Stimme von den Mauern widerhallte. »Halleluja, halleluja!«
»Dank sei Gott«, antwortete die Gemeinde, »halleluja, halleluja!« Es war ein ungeheuer erfüllender Moment, selbst wenn gleich die Hölle losbrechen würde. Eine höfliche, episkopale Hölle natürlich. Sie grinste.
Die Chorsänger kamen seitlich und durch den Mittelgang je zu zweit oder zu dritt wieder nach vorne. Pfarreimitglieder erhoben sich von ihren Plätzen, zerrten Kinder hoch und zogen Jacken und Mäntel an, bevor sie Richtung Gemeindezentrum gingen. Durch den Stimmenlärm war kaum etwas zu verstehen; Clare sprang deshalb beinahe vor Schreck, als Russ ihr ins Ohr sprach.
»Hübsche Predigt. Eigentlich sogar alles ganz cool. Sehr zeremoniell.«
»Nicht wahr? Sie sollten mal zu einem der großen Feiertage kommen. Da können Sie sehen, wie ich den Altar beweihräuchere.«
»Hm. Klingt interessant.«
»Malerische Eingeborene in ihrer natürlichen Umgebung, beim Ausüben farbenfroher Rituale.«
»Apropos Eingeborene: Wo soll ich …?«
»Ich muss dableiben und den Leuten beim
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