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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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seiner Nachdenklichkeit verstärkte sich Russ’ Nord-New-Yorker Akzent, sodass »nicht wahr« fast schon wie »newahr« klang. »Vielleicht hatte er Grund zu dieser Wut.«
    »Werden Sie heute Nachmittag rausfahren und mit ihm reden?«
    »Nein. Bevor ich ihn auf die Liste der Verdächtigen setze, möchte ich mehr Informationen. Es gibt einen sehr guten Rat für Polizeivernehmungen: Stell nie eine Frage, die du nicht schon beantworten kannst. Nicht dass man je auf alles die Antwort wüsste. Aber wenn ich Ethan jetzt festnehme, muss ich im Trüben fischen. Nein, erst will ich Katies Eltern finden oder ihre Schwester. Mir ein Bild machen, wer sie war, welche Pläne sie hatte.«
    »Was heißt ›ihre Eltern finden‹? So viele McWhorters kann es in oder um die Depot Street ja nicht geben.«
    »Sie kennen diese Gegend noch nicht. Das ist unsere Provinzausgabe von rattenverseuchtem Slum. Im Wesentlichen Gebäude mit sechs, acht oder zehn Wohneinheiten, die den Leuten über dem Kopf zusammenfallen. Nicht dass sie’s groß merken würden. Die Hälfte der Bewohner hat kein Telefon. Vierundzwanzig-Zoll-Fernseher und Satellitenanschluss, aber kein Telefon.«
    »Nur weil jemand arm ist, muss er kein schlechter Mensch sein, Russ. Genau wie jemand nicht unbedingt gut sein muss, weil er reich ist.«
    »Ich werfe ja auch keinem seine Armut vor. Donnerwetter noch mal, meine Mutter war auch arm, als mein Vater gestorben ist. Ich werfe es Leuten vor, wenn sie ihre Situation ändern könnten, aber zu faul, von Drogen oder der Flasche abhängig oder einfach zu gleichgültig sind, selbst wenn sie wie Schweine leben und der Öffentlichkeit auf der Tasche liegen.«
    Clare stellte ihr Glas auf den Tisch und starrte ihn fassungslos an. »Wenn Sie, statt wütend auf diese Menschen zu sein, vielleicht wütend auf die Umstände wären, die das Leben dieser Menschen geformt haben, dann könnten Sie eventuell wider Erwarten zu einer Veränderung beitragen, nicht bloß herumstänkern. Sie müssen versuchen, den Einzelnen zu sehen, nicht nur eine undefinierbare Masse. Vielleicht erkennen Sie dann die Probleme dieser Leute und betrachten nicht sie selber als Problem.«
    »Ausgerechnet – entschuldigen Sie meine Offenheit, Clare, aber das ist naiv.«
    »Nein, das ist es nicht. Leuten die Hand reichen, die vielleicht nicht einmal wissen, welche Hilfe sie brauchen, ist eine undankbare Arbeit. Ich bin Männern und Frauen begegnet, die widmeten dieser Aufgabe ihr ganzes Leben, und es sind einige der zähesten, am wenigsten naiven Menschen, die ich kenne.«
    »Ich stelle allerdings fest, dass Sie nicht in dieses Projekt ›Großstadtprobleme‹ einsteigen.«
    Clare hob hilflos ihre Hände. »Mir scheint, Sie haben ganz gut bewiesen, dass Millers Kill über seinen Anteil an modernen Problemen verfügt, auch ohne Großstadtprojekte. Meine Arbeit hier wird unter anderem darin bestehen, meine Gemeinde zu Hilfsaktionen aufzufordern und sie dazu zu bringen, dass sie ihre Augen öffnet und die Not ringsum erkennt.«
    »Und was dann?«
    Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Dann werden wir uns, wenn es nach mir geht, erst einmal Mädchen wie Katie McWhorter zuwenden – Mädchen, deren Schwangerschaft sie zu lebenslanger Abhängigkeit, schlechtem Umgang und kaputten Beziehungen verurteilen würde. Wir werden ihnen helfen, den Schulabschluss zu machen, und sie für die Arbeitssuche vorbereiten, sie zu besseren Müttern erziehen. Sie unterrichten und führen, damit sie wissen, sie sind nicht nur Gebärmaschinen, sondern auch sonst noch etwas wert. Wir werden ihnen bei der Veränderung ihres Lebens zur Seite stehen.«
    »Sie haben die Nester provinzieller Armut noch nicht gesehen, Clare. Menschen, die nie einen festen Job hatten, die in einem Elternhaus lebten, wo das Verprügeln der Frau zur Tagesordnung gehörte, oder die keinen Tag hinter sich bringen, ohne sich voll zu saufen, damit sie ihr elendes Leben vergessen können. Ich bin schon dort gewesen und habe die Scherben zusammengeräumt, und ich sage Ihnen hier und heute: Sie werden seelisch auf den Hund kommen, wenn Sie solche Leute zu ändern versuchen.«
    Sie lächelte ihn an. Vielleicht war er doch keine so harte Nuss. »Ich habe keine andere Wahl, Russ. Wir alle sind aufgerufen, jeden Menschen als Ebenbild Gottes zu sehen. Selbst ein alter Atheist wie Sie muss den Satz schon gehört haben: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹.«
    »Oh. Verdammt, wenn Sie hier Gott mit reinziehen

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