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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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könnte sie gezwungen haben, weil das Kind von ihm war.«
    Russ kam sich vor, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Clare war bleich, aber gefasst. »Kristen, was sagen Sie da? Wurde Katie von Ihrem Vater sexuell missbraucht?«
    Kristen fuhr sich mit beiden Händen durch ihre Kurzhaarfrisur. »Ich weiß es nicht. Echt nicht. Aber mit mir hat er’s immer gemacht.«
    »Mein Gott«, keuchte Russ.
    »Wollen Sie darüber sprechen, Kristen?«
    Das Mädchen sah Clare an. Unschlüssigkeit und Schmerz kämpften in ihrem Gesicht. »Es ist schwer, darüber zu reden.«
    »Hören Sie, Kristen«, sagte Russ, »vor Ihrem Vater brauchen Sie keine Angst zu haben. Geben Sie mir seinen Namen und seine Adresse, und noch vor fünf Uhr sitzt er im Bezirksgefängnis.« Vielleicht mit einer außerplanmäßigen Zwischenstation, wo das Dreckschwein zufällig eine Treppe runterfallen könnte. Keiner im Gefängnis würde irgendeine Bemerkung machen.
    »Nein, bitte!«, sagte Kristen. »Ich möchte ihn nicht anzeigen. Ich bin von dort weg, und mehr wollte ich nicht. Ich dachte, Katie hätte es auch geschafft …«
    »Erzählen Sie uns davon, Kristen. Sie müssen Ihren Vater nicht anzeigen, wenn Sie nicht möchten.« Clare erstickte Russ’ Protest mit einem raschen Blick, der besagte: »Halten Sie sich zurück!«
    »Ich … ich …«
    Sie legte ihre Hand flach auf den Tisch. »Nehmen Sie sie und erzählen Sie. Wenn es zu schwer wird, drücken Sie einfach, so fest Sie können.«
    Das Mädchen legte zaghaft seine Hand in die der Pastorin und atmete noch einmal tief durch – ein Atemzug, schwer von unvergossenen Tränen. »Ist gut. Ich versuch’s.« Sie machte die Augen zu. »Angefangen hat es, als ich ungefähr vierzehn war. Katie muss zwölf gewesen sein. Ich war nicht dumm, ich wusste, dass Vater etwas Unrechtes tat. Aber ich hatte Angst, es jemandem zu erzählen. Wie sollte ich denn leben ohne ihn? Er hatte sein Geschäft – und er bekam Behinderten-und Sozialhilfe. Mom war nutzlos. Schlimmer als nutzlos. Die hätte glatt geleugnet, dass er’s rauf und runter mit mir trieb. Außerdem wäre sie ohne ihn kaputtgegangen. Also hab ich eben … durchgehalten. Ich kannte Mädchen, die von der Schule abgehen mussten oder schwanger wurden und die’s geschafft haben, dass ein Typ oder der Staat für sie sorgt. Aber ich wollte mehr. Ich wusste, wenn ich nur bis zum High-School-Abschluss durchhalten würde, dann könnte ich einen anständigen Job kriegen und genug Geld fürs Leben verdienen. Also tat ich genau das.«
    »Vier Jahre lang?«, fragte Clare leise.
    »Hm«, bejahte das Mädchen.
    Russ verspürte Übelkeit. Er zitterte vor Anstrengung, still sitzen zu müssen, statt durch den Raum zu marschieren und mit beiden Fäusten an die Wand zu schlagen.
    »Gleich am Tag nach meinem Abschluss fing ich bei der Bank an, und sobald ich meinen ersten Gehaltsscheck bekam, bin ich weg von daheim. Ich hab Katie angefleht, mit mir zu kommen, aber sie wollte einfach nicht. ›Mom braucht mich‹, hat sie gesagt.« Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. »Ich glaube, sie machte sich Sorgen, es würde zu viel werden, wenn ich uns beide durchzubringen versuchte, bis sie die High School fertig hätte. Dabei war sie echt ehrgeizig – so’n heller Kopf, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer alle sagten, sie könnte ein Stipendium kriegen. Der College-Abschluss, das war ihr größter Wunsch.«
    »Und so kam sie auf die Universität in Albany? Durch ein Stipendium?«
    »Für die Studienkosten, ja. Ihr Zimmer und ihre Verpflegung musste sie mit einem Studentendarlehen bezahlen, und für ihre sonstigen Ausgaben hat sie gearbeitet.« Russ konnte sehen, wie Kristens Hand sich in der von Clare anspannte. »Ich wusste nicht, dass … Bevor ich daheim wegging, hat er sie nie angerührt. Und sie selbst erwähnte mir gegenüber kein Wort davon. Aber vielleicht wollte sie nichts sagen. Sie war, ich weiß nicht, irgendwie distanziert in ihrem letzten High-School-Halbjahr. Wir trafen uns nicht mehr so oft. Aber ich wusste ja, sie hatte viel zu tun, mit dem Job im Altenpflegeheim, mit Lernen und all dem.« Sie sah mit flehendem Blick zu Russ. »Ich meine, sie hätte es mir doch gesagt, wenn er … hinter ihr her war, oder?«
    »Ihnen fiel nie etwas von Katies Schwangerschaft auf?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Im Juni, gleich nach der High School, ist sie nach Albany gegangen. Die Uni hatte ihr eine Praktikantenstelle im

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