Das Weisse Kleid Des Todes
»Nein.«
»Sie wollen sie nicht erschrecken?«
»Den Schreck würde meine Mutter kriegen.« Er lächelte schief. »Ich dachte mir, irgendwas könnte heute in den Abendnachrichten kommen, deshalb habe ich meine Schwester Janet angerufen, damit sie mit Mom redet. Bis heute muss ich mir diese ›Warum arbeitest du denn nicht irgendwas anderes‹-Predigten von ihr anhören, aber wenn ich ein paar Tage den Kopf einziehe und warte, bis sie sich beruhigt hat, kann ich dem erst mal entkommen.«
»Aha. Und mit Linda haben Sie nicht gesprochen, weil …«
Er runzelte die Stirn. Clare sah ihn fragend an. Wartete. Er warf einen schnellen Blick durch die Küche, rutschte auf seinem Stuhl herum, hüstelte. Sie blieb ruhig sitzen, ihre Hand auf dem Tisch. »Ist das hier so ’ne Art Partnerschaftsanalyse?« Er lachte ein wenig. Clare neigte ihren Kopf zur Seite. Aufmerksam. Ansprechbar. Freundschaftlich. »Na schön. Linda und ich sind seit sechzehn Jahren verheiratet. Deshalb hat sie mit mir viel Scheiße durchgemacht. Bewaffnete Aufmärsche, Polizeiarbeit, Schießereien, das volle Programm. Und – ich weiß nicht, ob das schon von Anfang an so war oder ob es sich so entwickelt hat –, jedenfalls hält sie mich für unverwundbar. Ich habe gemerkt, dass ich nicht zu ihr hingehen und sagen kann: ›Heute war ich echt verrückt vor Angst‹, weil sie gar nicht versteht, warum. Was ich mache, was ich früher gemacht habe, ist für sie eine Art Actionfilm oder Fernsehabenteuer. Nichts ist wirklich real, also weshalb sollte es mir was ausmachen?« Er schnippte einen winzigen Wattefussel weg, der den Weihnachtsbaum auf dem Tisch schmückte. Dann sah er Clare an und lächelte matt. »War das jetzt so ’ne ›Meine Frau versteht mich nicht‹-Story?«
Clare lächelte. »Hm«, meinte sie bejahend. »Aber immerhin tragen Sie Ihr Hemd nicht halb aufgeknöpft, um Ihre Goldkettchen zu zeigen.«
»Oh, Gott bewahre mich vor den Wechseljahren des Mannes.« Er lachte und schüttelte den Kopf.
Clare verschränkte ihre Arme und beugte sich über den Tisch. »Wissen Sie, es ist nicht unnormal, wenn man solche Dinge der eigenen Frau oder der Familie nicht mitteilen kann. Ich habe viele Leute von dieser Sorte erlebt – Leute, die längere Zeit in sehr intensiven, sehr gefährlichen Situationen verbrachten, aber sie konnten darüber nicht mit ihrer Frau sprechen. Konnten natürlich auch vor ihren Kameraden nicht zugeben, dass sie Schiss gehabt hatten, außer im Spaß. So was staut sich an, der ganze Seelenmüll, und kein Ablassventil ist vorhanden. Ich glaube, darum wird in manchen Einheiten so viel getrunken und über die Stränge geschlagen.« Sie senkte ihren Blick auf sein Glas. »Sind Sie Alkoholiker?«
Er verschluckte sich an einem Mund voll Cola. »Teufel noch eins, Sie reden echt nicht um den heißen Brei herum, was? ’tschuldigen Sie den Kraftausdruck.«
Clare lächelte. »Sie braucht man nicht mit Samthandschuhen anzufassen. Antworten Sie.«
»Ja, Herrgott. Ich bin ein trockener Alkoholiker, seit mittlerweile fünf Jahren. Was, zum Teufel, hat das mit dem Ganzen zu tun?«
»Ich frage mich nur, wenn Sie mit Ihrer Frau nicht darüber reden und es auch nicht im Alkohol ersäufen können, mit wem reden Sie dann? Wohin gehen Sie?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute an die Decke. Schließlich sagte er: »Nirgendwohin, schätz ich.« Er sah Clare an. »Machen wir uns nichts vor: Es ist nicht so, als wär ich bei der Mordkommission in der Großstadt. Ich schau mir nicht Woche für Woche Leichen an oder habe regelmäßig Schusswaffen vor meiner Nase. Ich bin bloß Chief einer achtköpfigen Polizeimannschaft im guten alten Millers Kill. Sämtliche drei Gemeinden, für die wir zuständig sind, haben gerade mal zwölftausend Einwohner, das ist alles.«
»Zwölftausend Menschen, für die Sie sich persönlich verantwortlich fühlen.« Clare richtete einen Finger mit kurz geschnittenem Nagel auf ihn. »Sagen Sie, was fanden Sie bei den heutigen Ereignissen am schlimmsten? Die Angst vor einem möglichen Tod?«
»Nein.« Er stemmte seine Ellbogen auf den Tisch. »Nur ein Idiot hat keine Angst, wenn jemand eine Kanone auf ihn richtet. Dafür schäme ich mich nicht. Und ich habe auch keine Lust, darüber nachzudenken.«
»Das berauschende Gefühl, wenn Sie am Schluss wegspazieren und noch am Leben sind? Gefällt Ihnen das?«
»Nein! Ich meine, ja, natürlich spaziere ich gerne weg, aber
Weitere Kostenlose Bücher