Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
saßen die meisten Dorfbewohner in ihren Häusern beim Mittagessen.
    Das galt jedoch nicht für Hans Gätner. Als Lea sich dem Hof näherte, sah sie zwei Männer vor dem Eingang des Wohnhauses stehen: Der eine war Gätner selbst, der andere, wie sie rasch erkannte, Ortsvorsteher Harald Heimberger. Beide Männer verstummten augenblicklich, als Lea die Pforte öffnete und in den Hof trat.
    »Guten Tag!«, grüßte sie betont freundlich.
    Hans Gätner errötete bei ihrem Anblick – für Lea ein erster Hinweis, dass ihr Verdacht zutraf. Heimberger dagegen trat einen Schritt vor und reckte drohend das Kinn.
    »Was wollen Sie denn hier?«
    »Ich würde gern mit Herrn Gätner sprechen, wenn er einverstanden ist«, sagte Lea. »Ich glaube, ich habe etwas mit ihm zu klären.« Sie spähte über Heimbergers Schulter und bemerkte, dass der Bauer ihrem Blick auswich.
    »Hans?«, fragte der Ortsvorsteher, ohne sich umzudrehen. »Hast du etwas mit dieser Frau zu bereden?«
    Gätner brummelte etwas Unverständliches.
    »Offenbar nicht«, sagte Heimberger und verschränkte die Arme.
    »Sind Sie sein Chefsekretär – oder sein Leibwächter?«, fragte Lea spitz.
    »Sein Anwalt«, gab Heimberger zurück.
    »Oh.« Lea nickte und beschloss, auf jedes Versteckspiel zu verzichten. Offenbar hatte Gätner den Ortsvorsteher ins Vertrauen gezogen, und beide Männer wussten, was sie wusste. »Dann sagen Sie ihm bitte, dass ich nicht die Polizei rufen werde, da ich an einer Eskalation kein Interesse habe. Stattdessen würde ich ihm gern Gelegenheit geben, mir offen zu sagen, was er mit seinen Anschlägen bezweckt.«
    Heimberger wandte kaum merklich den Kopf und nickte, als gäbe er seinem Hintermann ein verabredetes Zeichen.
    »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, brummelte Gätner.
    Lea starrte ihn ungläubig an. »Das ist nicht ihr Ernst! Sie wollen leugnen, dass Sie in meiner Wohnung waren, und dass Sie die Reifen meines Wagens zerstochen haben?«
    Gätner blickte auf, und für einen Augenblick zeichnete sich Verwirrung auf seinem mürrischen Gesicht ab. »Die Reifen zerstochen? Wovon sprechen Sie?«
    »Sie hören doch: Er weiß nicht, was Sie von ihm wollen«, bekräftigte Heimberger. »Es wäre das Beste, wenn Sie jetzt verschwinden. Im Übrigen ist es schon das zweite Mal, dass Sie ungebeten diesen Hof betreten und meinen Mandanten belästigen. Ich hoffe, Sie werden mich nicht dazu zwingen, Sie mit einer einstweiligen Verfügung in die Schranken zu verweisen. Das kostet mich nur einen einzigen Anruf bei der Staatsanwaltschaft.«
    »Daran zweifle ich nicht«, sagte Lea. »Und ebenso wenig daran, dass Sie offenbar gute Gründe haben, Herrn Gätner zu beschützen.«
    Heimberger musterte sie kalt. »Ich warte darauf, dass Sie gehen.«
    »Nichts lieber als das.« Lea nickte. »Leider war es keine gute Idee, mir die Autoreifen zu zerstechen. Ich wäre nämlich schon längst abgereist. Das ist es doch, was Sie wollen, oder nicht?«
    Heimberger verzog keine Miene, während Gätner noch immer verwirrt dreinblickte.
    »Schönen Tag noch!« Lea wandte sich zum Gehen. Sie spürte die Blicke der beiden Männer im Rücken, als sie die Pforte hinter sich schloss und langsam zum Dorfplatz zurückging.
    So ist das also,
dachte sie.
Gätner ist klargeworden, dass er Spuren hinterlassen hat. Er hat damit gerechnet, dass ich ihm auf die Schliche komme, und auf der Stelle den Dorftyrannen um Schutz gebeten, für den Fall, dass ich ihm die Polizei ins Haus schicke. Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet diese beiden wie Pech und Schwefel zusammenhalten? Heimberger ist Politiker, wohlsituiert und einflussreich, Gätner ist ein armer Landwirt. Ihre einzige
Gemeinsamkeit ist   …,
sie hielt inne,
… dass beide von ihren Ehefrauen betrogen wurden.
    Diese Erkenntnis gab den Ausschlag. Lea überzeugte sich, dass nach wie vor niemand im Freien war, der sie beobachten konnte. Dann kehrte sie um. Noch einmal näherte sie sich Gätners Hof, diesmal jedoch über einen schmalen Kiesweg, der seitlich zwischen dem Stall und dem Nachbarhaus verlief. Umsichtig schlich sie zur Rückseite des Grundstücks, das an den Wald grenzte, spähte in den Hof und lauschte. Die beiden Männer waren verschwunden. Allerdings drangen gedämpfte Stimmen zu ihr herüber, und zwar, wie Lea rasch ortete, aus einem angekippten Parterrefenster des Wohnhauses. Das Fenster öffnete sich zur Waldseite des Grundstücks und lag keine zehn Meter hinter dem Zaun, jenseits eines kleinen

Weitere Kostenlose Bücher