Das Wesen. Psychothriller
an die Garderobe und setzte mich. »Grübeln Sie über diesen Lichner nach?«
Menkhoff betrachtete seine Schuhe, die außerhalb des Schreibtischs in der Luft hingen, und bewegte die Füße vor und zurück. Die dunklen Schatten unter seinen Augen ließen ihn um Jahre älter aussehen, als er war. »Ja, auch. Über ihn, über Nicole Klement … Seltsame Beziehung.«
»Hm … Vielleicht brauchen Frauen wie sie jemanden, der so von sich überzeugt ist und alles regelt. Sie macht auf mich einen sehr zerbrechlichen Eindruck. Fast hilflos.«
Er stellte den Kaffeebecher ab und schwang die Füße von der Schreibtischplatte. »Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, er hat seine Methoden. Sie haben ihn doch erlebt – können Sie sich vorstellen, was dieser Kerl rhetorisch mit ihr macht? Er ist Psychiater, er weiß ganz genau, welche Knöpfe er bei ihr drücken muss.«
Ich fragte mich, worauf er hinauswollte. »Halten Sie es für möglich, dass Dr. Lichner Juliane umgebracht hat?«
Er nickte. »Ich trau es ihm zu.«
»Ich weiß nicht … Nur weil diese alte Frau angeblich was gesehen hat, was ihr erstens verdammt spät eingefallen ist und was zweitens noch unmöglich ist?«
Er wandte sich von mir ab und sah nach draußen, schwieg ein paar Sekunden lang. »Ich hab diesen ganzen Mist so satt.« Es sah aus, als rede er mit der Fensterscheibe. Seine Stimme hatte sich verändert, sie war leise geworden und monoton. »Typen wie dieser Lichner machen mich krank. Diese Kerle, die sich für so schlau halten, dass sie uns lächelnd auf der Nase rumtanzen. Und warum machen sie das? Weil sie es können. Weil unser Rechtssystem die Verbrecher vor der Polizei mehr schützt als die Opfer vor den Verbrechern. Wir laufen uns die Hacken wund, um den Mord an einem kleinen unschuldigen Kind aufzuklären, und so ein elender Scheißkerl macht sich über uns lustig. Warum tun wir uns das an? Um spätabends in die Wohnung zu kommen, die man als sein Zuhause bezeichnet, obwohl sie kein Zuhause ist, weil man so gut wie nie da ist und wo … wo man sich vor den Fernseher hockt, alleine, um sich von dem Mist, der da läuft, so lange berieseln zu lassen, bis einem die Augen zufallen, und dann … dann hofft man, wenigstens nicht nach einer Stunde schon wieder hochzuschrecken, weil man von einem toten Kindergesicht geträumt hat.«
Damals kannte ich meinen Kollegen, dessen Blick aus glasigen Augen irgendwo nach draußen gerichtet war, noch nicht sehr gut, aber … die letzten 24 Stunden hatten Oberkommissar Bernd Menkhoff verändert.
17
23. Juli 2009
Dr. Lichner wirkte erstaunlich gelassen, als ich von einem Kollegen die enge Arrestzelle im ersten Untergeschoss aufschließen ließ. Auf dem Weg nach unten hatten Menkhoff und ich abgemacht, dass ich erst einmal alleine versuchen sollte, mit Lichner zu reden.
»Guten Morgen, Dr. Lichner«, sagte ich. »Haben Sie gut geschlafen?«
Er saß auf der Pritsche und rieb sich mit der Handfläche über die Wange. »Ja, aber der Frühstücksservice und das Gästebad lassen zu wünschen übrig. Was wollen Sie, Herr Hauptkommissar?«
»Ich mö –«
»Hat Ihr Kollege Sie vorgeschickt? Denkt er, ich rede eher mit Ihnen, weil er es damals war, der mir diese Sache untergeschoben hat? Vergessen Sie’s, Herr Seifert. Sie haben diese Sauerei damals mitgetragen, also sind Sie genauso korrupt wie er. Außerdem möchte ich endlich meinen Anwalt erreichen. Geben Sie mir Ihr Handy, ich möchte wetten, das Telefon hier ist präpariert. Wundern würde mich das jedenfalls nicht.«
Meine Stirn prickelte wie verrückt, und ich konnte in diesem Moment Menkhoffs Zorn gut verstehen. Ich war versucht, die aufschäumende Wut rauszulassen und ihm zu sagen, was ich von ihm hielt, aber den Gefallen wollte ich ihm nicht tun. »Das Telefon hier ist in Ordnung. Keine Ahnung, was mit Ihrem Anwalt ist«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Der wird sowieso nicht viel tun, wenn er gesehen hat, was wir gegen Sie in der Hand haben.«
»Was? Was wollen Sie schon gegen mich haben?« Er tat amüsiert, aber in seiner Stimme schwang Unsicherheit mit.
»Legen Sie sich noch etwas hin, heute Nachmittag werden Sie zur U-Haft in die JVA verlegt.«
»Das glauben Sie ja selbst nicht, Seifert. Sie haben niemals …« Mehr verstand ich nicht, ich hatte die Zellentür geschlossen. Menkhoff, der zwei Meter weiter gewartet hatte, grinste mich an. »Gut so. Nun geht ihm der Arsch auf Grundeis.«
Ich wiegte den Kopf hin und her. »Da bin ich
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