Das Wiegen der Seele (German Edition)
das Gefühl, genug gehört zu haben, sondern stellte immer wieder neue Fragen, um auch alles komplett zu verstehen. Als Nettgen sich schließlich zurück in den Stuhl lehnte und mit gesenktem Kopf seinen Vortrag beendete, erhob sich der Chef von seinem Sessel und wanderte nachdenklich im Büro auf und ab. Er zögerte eine Weile, und Nettgen dachte schon, dass er jetzt das Donnerwetter seines Lebens durchstehen müsste, aber dann sagte Burscheidt in einem ruhigen und gar nicht herablassenden Ton:
„Gut, Kommissar Nettgen. Ich bin zwar enttäuscht darüber, dass S ie den Vorfall nicht gemeldet haben. Aber andererseits kann ich S ie voll und ganz verstehen. Ich hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt. Aber kommen wir jetzt zur aktuellen Situation . “
Er machte eine kurze Pause, fuhr sich mit der flachen Hand durch das Gesicht und setzte sich wieder in seinen Sessel . Der Chef stieß einen Seufzer aus, richtete seinen Blick auf Nettgen und fuhr fort: „Ich denke, I hnen ist klar, dass ich nun handeln muss. Ich kann natürlich nicht zulassen, dass S ie sich in Gefahr begeben, zumal wir mit diesem Fall ohnehin schon tief im Mist sitzen. Wir können uns nicht noch mehr Schlagzeilen leisten. Ich werde sofort eine Überprüfung aller Chrysler-Vans in Essen veranlassen. Vielleicht stoßen wir auf Personen, die als Täter in Frage kommen könnten, weil sie zum Beispiel ägyptische Staatsbürger sind. Das wäre zwar ein mittleres Wunder, aber mal sehen ... Zweitens werde ich morgen eine Annonce aufgeben lassen, die an die Bevölkerung gerichtet ist. Wir formulieren den Text so, als suchten wir nach Hinweisen auf den letzten Mord. Als Hilfestellung richten wir eine Hotline ein, welche die Stimme des anonymen Anrufers abspielt. Andere Möglichkeiten haben wir derzeit nicht, leider ... Hmm ... ich hatte mich schon gefragt, warum S ie den Polizeischutz für Frau Crampton angeordnet haben, ohne mich zu fragen. Jetzt weiß ich es. Machen S ie das trotzdem nie wieder. Ansonsten gute Arbeit, auch wenn es mir schwerfällt, das zuzugeben, bei Ihrer Arbeitsweise. Ab morgen befinden S ie sich erstmal aus der hiesigen Schusslinie. Wir machen hier unsere Arbeit, S ie versuchen, in Ägypten was herauszufinden. Hoffen wir, dass die das nicht sofort mitbekommen. In Ägypten können wir nur wenig für S ie tun . “
Nettgen war für einen Augenblick sprachlos. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sich der Boss so sehr für ihn einsetzen würde – gerade, nachdem dieser ja anderen Hinweisen gegenüber sich fast schon fahrlässig verhalten hatte. Außerdem hatte Nettgen auf den Anschiss seines Lebens gewartet. Halb erstaunt, halb erleichtert sagte er: „Ja, ich denke auch, es ist das Beste, was wir derzeit machen können . “
Nettgen blickte unbehaglich vor sich hin. In seinem Magen befanden sich mehrere Knoten. Dann ließ er seine Blicke im Büro herumwandern. Er suchte nach Worten, nach einem Anfang, nach etwas, das er sagen konnte, um seinen hin- und herkreisenden Gedanken Ausdruck zu verleihen. Ihm fiel nichts ein.
„Danke“, meinte er nur. „Danke, Herr Burscheidt . “
Burscheidt antwortete nur mit einem verständigen Kopfnicken.
Nettgen stand auf und schloss die Bürotür hinter sich. Er brauchte frische Luft, musste was anderes sehen als den Betonklotz des Polizeipräsidiums. Er ging hinaus auf die Straße, kramte in der Hose nach seinem Autoschlüssel und fuhr los.
Nettgen brauchte jetzt einen Drink und steuerte auf die Stammkneipe zu. Dort angekommen, stellte er sich an die Theke und zündete sich eine Zigarette an. Silvia hatte immer noch Dienst und brachte gerade Bier zu ein paar wüst aussehenden Typen, die schon halbtrunken am Tresen saßen. Auf dem Weg erblickte sie Nettgen.
„Na, ihr zwei seid heute Morgen aber schnell verschwunden“ , grinste sie anzüglich.
„Termine, Termine“, zwinkerte Nettgen zurück.
Er bestellte ein Bier und sah sich ein wenig im Pub um, während er trank. Die Gäste an diesem Abend waren laut und die meisten unter dreißig. Die meisten blieben nur für ein, zwei Bier und gingen dann wieder. Aber immer, wenn der Pub zur Hälfte leer war, kam wieder eine weitere Horde herein, als hätten sie sich verabredet. Okay, fürs Geschäft konnte das nur gut sein, aber für Nettgen war es heute einfach zu voll und zu laut. Auch das war eigenartig für ihn, konnte er es doch sonst nicht laut genug haben. Er bestellte noch ein Bier, das er viel zu hastig herunterkippte .
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