Das Winterhaus
Sie schlug ein Buch auf, aber es gelang ihr nicht, sich in ihm zu verlieren. Es war zwei Uhr, sie mußte noch Briefe aufgeben. Sie setzte ihren Hut auf und knöpfte ihren Mantel, nahm die Briefe und ging aus dem Haus. Als die Tür hinter ihr zufiel, blieb sie stehen. Die graue, stille Landschaft verschwamm in ihren Tränen. Plötzlich rannte sie zum Schuppen und holte das Fahrrad ihres Vaters heraus. Die Briefe flatterten unbeachtet zu Boden. Ihr Rock rutschte hoch, als sie das Bein über die Stange des Herrenfahrrads schwang. Dann radelte sie nach Blackmere Farm.
Hugh war allein zu Hause. Er hatte Bronchitis, wie er ihr erklärte, und war die ganze letzte Woche nicht zur Arbeit gegangen. Er hatte abgenommen und sah größer und schmäler aus denn je, und seine Hustenanfälle lenkten Helen von ihren eigenen Kümmernissen ab.
»Ich bin heute den ersten Tag auf«, sagte er. »Befehl meiner Mutter. Ich soll die alten Kleider durchsehen.«
Auf dem Küchentisch lag ein großer Haufen alter Kleidungsstücke. Hugh betrachtete ihn mißmutig. »Ich komme mir so verdammt nutzlos vor – oh, entschuldige, Helen –, und ich dachte, wenn ich irgendwas tun könnte, anstatt mich dauernd bedienen zu lassen … aber jetzt – ich werde schon vom Hinschauen todmüde.«
»Ich helf dir, wenn du magst, Hugh.«
»Ach, das wäre wirklich nett. Aber was ist mit deinem Vater?«
Helen begann schon, die Sachen zu sortieren. »Daddy schläft nachmittags immer. Und der Hilfspfarrer hat gesagt, er würde vorbeikommen.«
»Die guten Sachen hierhin, das Zeug für den Lumpensammler in den Korb, und alles, was total unmöglich ist, schieb ich einfach in den Ofen.« Mit einer Grimasse ergriff Hugh eine ausgeleierte lange Unterhose, drehte Helen den Rücken zu und öffnete das Türchen des Küchenofens. »Die letzten Monate müssen ziemlich scheußlich für dich gewesen sein«, meinte er. »Bekommst du viel Besuch?«
»Ab und zu kommt der Hilfspfarrer.« Helen sah ein Kinderkleid nach Löchern durch. »Und der Arzt natürlich.«
»Aber wer besucht dich, Helen?«
»Nur du, Hugh«, sagte sie, während sie das Kleid faltete. »Und Maia, wenn sie kann. Aber sie hat furchtbar viel zu tun.«
»Maia liebt es, viel zu tun zu haben. Oder kannst du dir vorstellen, daß sie einfach mal alle viere von sich streckt und einen Kitschroman liest oder vor sich hin träumt?«
Wenn Hugh lächelte, bildeten sich in der Haut um seine klaren hellbraunen Augen viele kleine Fältchen. Es verlangte Helen danach, diese kleinen Fältchen mit ihren Fingerspitzen zu glätten, das kleine Grübchen an seinem Halsansatz zu küssen. Jedoch sortierte sie weiter die alten Kleidungsstücke.
Als sie fertig waren, setzten sie sich ins Wohnzimmer ans Feuer und rösteten Crumpets. Hughs Gesicht war rot, sein Husten verschlimmerte sich. Seine Unruhe war, dachte Helen, vermutlich eine Nachwirkung des Fiebers. Sie half ihm beim Anfang des großen Puzzles, das Daisy unter dem Ramsch auf dem Speicher gefunden hatte; und während er still mit ihr zusammensaß, die Puzzleteile durchsah, den Tee trank, den sie gekocht hatte, wurde seine Farbe allmählich wieder normal, und der fiebrige Glanz seiner Augen dämpfte sich. Später, als Daisy nach Hause gekommen war, spielte Helen Klavier, und Hugh schlief im Sessel ein. Als Daisy Helen hinausbrachte, flüsterte sie: »Tausend Dank, Helen. Ich habe mir schreckliche Sorgen um ihn gemacht. Du tust ihm wirklich gut.« Und Helen vergaß ihre Ängste, als sie heimradelte, und genoß die kühle Luft in ihrem Gesicht und die schnelle Fahrt auf der langen, schnurgeraden Straße durch Wiesen und Felder.
In Thorpe Fen gab es drei Arten von Häusern. Es gab das Pfarrhaus, das etwa so groß war wie alle anderen Häuser zusammen; es gab die Handwerkerhäuser wie Adam Hayhoes Cottage; und es gab die Arbeiterhäuser: kleine, strohgedeckte Hütten, die auf den tiefstgelegenen Bodenstellen zusammengedrängt waren. Sie gehörten der Familie, die im Großen Haus lebte. Die windschiefen Haustüren hingen wegen des absinkenden Bodens hoch über der Oberfläche der Straße; die Fenster schienen aus den krummen Mauern zu kippen; und die letzte Kate, ihr Mauerwerk von einem klaffenden Riß durchzogen, war überhaupt unbewohnbar. Für die Häuser gab es einen gemeinsamen Brunnen, der in heißen Sommern austrocknete und in regnerischen Wintern überflutete. Die Straße vor den Häusern war, je nach Witterung, schlammig oder staubig. Helen fand Percy, ihren Kater,
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