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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Wohltätigkeitsbasars zu suchen. Während sie sich vorsichtig zwischen Schiffskoffern, Stapeln von Kisten und alten Truhen einen Weg bahnte, fiel ihr Blick auf eine Harfe, die gänzlich mit Spinnweben überzogen war, auf einen Schirmständer, der aus einem Elefantenfuß gemacht war, und immer wieder auf Kisten voller Bücher, deren Rücken vermodert und zerschlissen waren. Und sie sah einen Kinderwagen – vermutlich war es ihr eigener – und eine Wiege. Sie berührte die Wiege, die leise knarrend hin- und herschwang, und ihre Fingerspitzen hinterließen eine sichtbare Spur in der dicken Staubschicht. Spinnen, in ihrer Ruhe aufgestört, huschten eilig über den Boden. Helen ging weiter, geduckt unter Balken, ertastete sich ihren Weg, als das Licht, das durch die Falltür fiel, nicht mehr ausreichte, die Dunkelheit zu erhellen. Der Speicher nahm die ganze Fläche des Hauses ein und war in eine Folge abgeschlossener Räume aufgeteilt. Bald hatte sie alles, was ihr vertraut war, hinter sich gelassen, und sie hatte den Eindruck, rückwärts durch die Zeit zu schreiten, als sie sich inmitten des langsam zerfallenden alten Gerümpels sah, das noch von den Vorgängern ihres Vaters stammte. Kerzenleuchter und ein Victrola und ein alter Zylinder. Ein in Auflösung begriffenes Liederbuch: sentimentale viktorianische Lieder von Herz und Schmerz und sterbenden Kindern. Dann öffnete sie die Tür in der letzten Trennwand.
    Licht überflutete sie, als sie sich in dem kleinen, leeren Raum umsah. Das viereckige Fenster blickte zum Garten hinaus, und als sie den Staub fortgewischt hatte, konnte sie unten Adam Hayhoe sehen, der im Gemüsegarten arbeitete. Seit der Krankheit ihres Vaters kam er unaufgefordert zweimal in der Woche, um die Gartenarbeit zu machen, da er wußte, daß ihr Gärtner nicht auf dem Damm war. Helens Zorn verflog plötzlich. Sie setzte sich auf den staubigen Boden, schloß die Augen und versuchte zu beten.
    Hugh kam mindestens zweimal in der Woche nach Thorpe Fen: Meistens blieb er etwa eine Stunde und half ihr, wenn sie zu tun hatte, ob sie nun die frisch gewaschenen Bettlaken falten oder Kartoffeln schälen mußte. In der öden Zeit zwischen seinen Besuchen tröstete sie sich mit Gedanken an seinen letzten oder freute sich auf seinen nächsten. Immer wieder spielte sie im Geist ihre gemeinsamen Gespräche durch, sah Hugh vor sich, wie er in der Küche oder im Garten oder im Salon gesessen hatte, erinnerte sich an den Glanz der Sonne auf seinem welligen hellbraunen Haar oder an die Art, wie er seine Teetasse hielt. Abends vor dem Einschlafen pflegte sie sich vorzustellen, wie sie und Hugh mit dem Automobil kreuz und quer über den Kontinent fuhren oder vielleicht eine Kreuzfahrt mit einem Segelboot unternahmen. Dann würde ein schwerer Sturm aufkommen, und sie würde ins Meer gerissen werden, und Hugh würde sie retten. »Ich könnte ohne dich nicht leben, Helen«, würde er sagen, bevor er sie küßte …
    Die Tage, an denen Hugh nicht kam, erschienen ihr lang und trostlos. Wenn sie ihren Nachmittagsspaziergang machte, hatte sie das Gefühl, daß die Leute in den kleinen, armseligen Häusern, die das Dorf bildeten, sie beobachteten; und die Landschaft um sie herum, diese endlose Ebene aus Feldern, Gräben und moorigen Wiesen, rief eine irrationale Angst in ihr hervor. Was sie eigentlich fürchtete, wußte sie nicht: die alten Geister der Fens vielleicht – die heidnischen Kobolde und Sumpfgespenster, die nach Überzeugung vieler Dorfbewohner noch immer die einsamsten Wege und Moorwiesen heimsuchten. Nicht einmal die Worte der vertrautesten Gebete konnten sie trösten, und die sich verfinsternde Landschaft schien uralt, vorchristlich, unheilig.
    Das Wetter schlug plötzlich um, und es war Herbst. Graue Wolken hingen tief am Himmel, aber es regnete nicht. Es ging kein Wind, und als Helen am Nachmittag, nachdem sie nach ihrem Vater gesehen hatte, zum Wohnzimmerfenster hinaussah, schien ihr alles in unnatürlicher Stille erstarrt. Kein Blatt, kein Vogel, kein Käfer regte sich im Garten. Ketten der Liebe und der Pflicht hielten sie gefangen.
    Sie konnte die düstere Stimmung nicht abschütteln. Hugh hatte sich seit mehr als einer Woche nicht mehr sehen lassen; mit wachsender Qual hatte sie die Tage in ihrem Tagebuch abgehakt. Wenn sie an Gussie und Thomas dachte, hätte sie am liebsten geweint. Sie versuchte Klavier zu spielen, aber ihre Finger waren plump, und sie hatte den Text ihrer Lieblingslieder vergessen.

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