Das Winterhaus
alten Zeitungen, die weggeworfenen Players-Packungen und Flaschendeckel in die Rinnsteine. Frühmorgens, wenn das Klappern der Holzschuhe der Fabrikarbeiterinnen auf dem Weg zur Arbeit wie das Hufgetrappel eines einreitenden Kavallerieregiments durch die Straßen schallte, lag eine Eisschicht auf den Pfützen, und die Bäume im Park hingen voller Rauhreif. Robin fror ständig, trotz dicker Jacke und Pullover, trotz Handschuhe und Mütze und Mantel. Die Kälte schien bis in ihr Innerstes eingedrungen zu sein und sich dort für immer niedergelassen zu haben.
Sie wohnte in einer Villa in einem der besseren Viertel von Leeds. Sie fuhr nach Keighley und nach Barnsley, und sie sah sich in Leeds selbst um. Abends schrieb sie auf, was sie gesehen hatte, und versuchte in der Nacht nicht davon zu träumen. Sie kämpfte gegen die Hoffnungslosigkeit und versuchte sich den Optimismus zu erhalten, der immer ein Teil ihres Wesens gewesen war. Doch das Elend, das sie sah, war ungeheuer, schien unüberwindbar. So viele Menschen ohne Arbeit, so viele, die in primitivsten Verhältnissen hausten, so viel Apathie, so viel Gleichgültigkeit. War sie einst davon überzeugt gewesen, daß alle diese Probleme sich eines Tages würden lösen lassen, so begann ihr diese Zuversicht jetzt zu entgleiten. Die Armut schien ihr genauso zur Landschaft zu gehören wie die himmelhohen Fabrikessen und der Kohlestaub, der sich in jede Mauer setzte.
Am Tag vor ihrer Rückkehr nahm Robin einen Bus und fuhr aufs Hochmoor hinaus. Sie hatte in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen und meinte noch einen weiteren Tag in der Stadt nicht aushalten zu können. Die Luft über dem Moor war kühl und duftete nach Torf und Heidekraut; der Wind hatte sich endlich gelegt. Am blaßblauen Himmel hingen gefiederte weiße Wölkchen, und die Sonne schien auf die Hügelgipfel. Sie fühlte sich an die stillen Weiten der Fens erinnert, obwohl die beiden Landschaften so unterschiedlich waren. Nach einer langen Wanderung begann sie sich wieder freier zu fühlen, weniger an die Erde gefesselt. Am Nachmittag ließ sie die Hügel hinter sich und nahm den Bus. An einem Dorf stieg sie aus, um Tee zu trinken. Das Dorf hieß Hawksden und gehörte zu einer großen Spinnerei. Eine einzige gewaltige, runde Esse ragte in den Himmel hinein, und die breite Fassade des Fabrikgebäudes, auf dem in riesigen Lettern der Name »Elliots« stand, nahm fast einen ganzen Straßenzug ein. Der Rest des Dorfes bestand aus langen Zeilen dichtgedrängter kleiner Reihenhäuschen, und als die Sirene das Ende der Schicht ankündigte, füllten sich die Straßen mit Spinnereiarbeiterinnen, die älteren Frauen mit tief in die Gesichter gezogenen Kopftüchern, die jüngeren Mädchen mit billigen hübschen Hüten. Ihre Holzschuhe klapperten laut auf dem Kopfsteinpflaster. Sie biß gerade in ein Stück Käsekuchen, als ihr Blick nochmals zu der Schrift an der Backsteinfassade hinüberwanderte und ihr ein Licht aufging. Elliots Spinnerei. Joes Vater, hatte Francis erzählt, sei Besitzer einer Spinnerei in Yorkshire, und wem die Spinnerei gehörte, sagte sich Robin, dem gehörte auch das Dorf. Sie sah Joe vor sich, mager und dunkel, wortkarg, immer hungrig, immer ein wenig verlottert, und wurde neugierig.
Ihre Fragen beantwortete ihr das Mädchen, bei dem sie bezahlte. Die Elliots, sagte sie, als sie Robin herausgab, hätten das Werk vor 50 Jahren aufgebaut, und seither sei es ständig in ihrem Besitz. Der Name des jetzigen Eigentümers sei John Elliot und ja, er habe zwei Söhne gehabt. Aber das Schicksal habe es nicht gut mit ihm gemeint, der ältere Sohn sei im Krieg gefallen und mit dem jüngeren habe er sich zerstritten. Und er habe seine beiden Ehefrauen überlebt – die biedere aus Buxton, die bei Johnnies Geburt gestorben war, und die hübsche, die Französin. Es begann schon dunkel zu werden, als Robin die Teestube verließ, um sich noch ein wenig in Hawksden umzusehen. Es hatte wieder zu regnen angefangen, und das Licht der Schwefellampen fiel gelb auf die nassen Pflastersteine. Es war nicht schwer, John Elliots Haus zu finden – das Haus, in dem Joe vermutlich aufgewachsen war. Es gab kein anderes Haus von seiner Größe in Hawksden. Es war riesig, häßlich, ein dreistöckiges Bauwerk mit einem achteckigen Turm, der unförmig an einer der Mauern klebte und überladen mit steinernen Girlanden und Schnörkeln. Es sprach von Reichtum und Macht, die stets mit Reichtum einherging. Es lag etwas abseits
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