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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Ferguson erzählte Helen kleine Anekdoten aus seiner frühen Kindheit in Indien. »Es ist ein ganz eigenartiges Land. Ich wollte eigentlich dorthin zurückkehren und Missionsarbeit leisten, aber nach dem Tod deiner Mutter … Das Klima in Indien ist so ungesund für Kinder. Ich wurde mit sechs Jahren nach England in eine Pflegefamilie gegeben.«
    Helen sagte neugierig: »War das schlimm für dich, Daddy?«
    »Schlimm? Was für eine merkwürdige Frage. Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern.«
    Danach hörte sie nicht mehr zu und starrte auf die verblichene Tapete und die Lichtkreise, die die Petroleumlampen auf die Wand warfen. Ab und zu lächelte oder nickte sie. Wie eine hölzerne Marionette, dachte sie, die von unsichtbarer Hand gelenkt wurde. Nach dem Abendessen machten sie einen Spaziergang im Garten. Die Lilien standen in voller Blüte, und Helen roch ihren schweren, süßen Duft in der warmen Luft.
    »Florences Lieblingsblumen«, sagte ihr Vater und knipste eine Blüte ab. Etwas Saft quoll aus dem abgebrochenen Stengel. »Für dich, mein Kind.«
    Helen schob die Blüte in ihr Haar.
    Er bat sie, für ihn Klavier zu spielen. Sie spielte » Just a Song at Twilight « und » Sweet and Low «. Dann schlug er das vergilbte Notenheft bei » When you were Sweet Sixteen « auf und stellte es auf die Ablage. »Florences Lieblingsstück«, sagte er. Als Helen zu der gerahmten Fotografie ihrer Mutter auf dem Klavier aufblickte, sah sie, daß Florence genau wie sie ein weißes Kleid anhatte und im Haar eine weiße Blüte trug. Keine Marionette, kein Irrlicht, dachte Helen. Sie war ein Geist geworden.
    Im Mai, als er endlich Fronturlaub bekam, erwischte Joe einen Transporter, der ihn bis kurz vor das Lazarett mitnahm, in dem Robin arbeitete. Nachmittags, wenn Robin mit ihrer Schicht fertig war, gingen sie im Park der Villa spazieren. Karpfen dösten in dem kleinen Teich, und Brunnen, die nicht sprudelten, warfen Schatten auf das stille grüne Wasser. Im verwilderten Rosengarten standen halb zerfallene Statuen pausbäckiger Engel. Sie setzten sich ins Gras und aßen Brot und Schinken und Oliven und machten Fotos mit Joes Kamera.
    »Fast wie in alten Zeiten«, sagte Joe glücklich. »Eine Flasche Wein …«
    »Etwas Gutes zu essen.«
    »Wir brauchen Musik.«
    »Eine der Schwestern hat ein Grammophon.« Robin rannte zum Haus zurück und kam zehn Minuten später mit einem alten Grammophon zurück.
    Sie spielten immer wieder » Anything Goes « und tanzten dazu über die schmalen grasüberwucherten Wege zwischen den gezirkelten Anlagen. Eine kurze Zeit gab es nichts für Robin außer der Sonne, dem Duft der Rosen und der Wärme von Joes Armen, die sie hielten. Als die Batterie schließlich ihren Geist aufgab und das Grammophon immer langsamer lief, so daß aus dem Sopran ein Baß wurde, ließen sie sich lachend zu Boden fallen.
    Auf den Ellbogen gestützt lag sie neben ihm und schaute zu ihm hinunter. »O Joe«, sagte sie leise und strich ihm eine dunkle Locke aus der Stirn.
    »Was denn?« Seine Augen waren zusammengekniffen wegen der Sonne.
    Sie lächelte. »Ich liebe dich. Weiter nichts.«
    Er zog sie zu sich hinunter und küßte sie. Nach einer Weile sagte er: »Kurz bevor ich aus England weg bin, habe ich dich und Francis gesehen.«
    Sie sah ihn groß an. »Das hast du mir gar nicht gesagt.«
    »Ich weiß. Albern, nicht?« Er sprach in leichtem Ton, aber sie sah den Schmerz in seinen Augen. »Ich dachte –«
    Sie legte ihre Hand auf seinen Mund. »Es spielt keine Rolle, Joe.«
    Behutsam schob er ihre Hand weg. »Doch, es spielt eine Rolle. Ich war ein Idiot. Ich dachte, du liebst Francis immer noch. Ich dachte – oh, daß man in der Liebe sicher sein müßte. Aber das kann man nie sein, nicht wahr? Es ist ganz anders. Es ist ein Risiko, und wenn man sich überreizt – na ja, dann hat man wenigstens den Mut gehabt, es zu versuchen.«
    Sie sagte: »Ich bin kein Risiko, Joe. Ich bin ein sicherer Tip«, und dann beugte sie sich über ihn und küßte ihn wieder. Danach streckte sie sich aus, den Kopf auf seiner Brust, und blickte ins Sonnenlicht, bis es in Regenbogenfarben zerfiel. An Joes Atem hörte sie, daß er eingeschlafen war. Als sie den Kopf hob und ihn betrachtete, sah sie, wie dünn er war: Mulden an Hals und Schultern, die Knochen seiner Ellbogen so spitz, als wollten sie durch die Haut stoßen.
    Die Schallplatte drehte sich immer noch, aber nur sehr langsam, die Worte kaum noch vernehmbar. Dann sprang die Nadel

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