Das Winterhaus
liegengelassen und konnte sich nicht erinnern, was sie besorgen mußte. Es war sehr heiß, und sie war nach der schlaflosen Nacht todmüde. Sie meinte, in der Kathedrale müsse es kühler sein, und ging hinein und setzte sich in eine Bank. Aber das hohe Dach, die gewaltigen Fenster aus funkelndem buntem Glas schnitten sie von dem Gott ab, den sie einst zu kennen geglaubt hatte. Alles erschien so weit, so finster. Die Chorknaben probten, und die dünnen, hohen Stimmen gingen ihr durch Mark und Bein und machten ihr Kopfschmerzen. Ein Mann in einer Soutane dirigierte. Helen lehnte sich zurück, und die Bilder verwischten sich vor ihren halbgeschlossenen Augen. Einen Moment lang meinte sie, ihrem Vater zuzusehen. Ein anderer Mann, der durch den Mittelgang kam, warf ihr einen Blick zu und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. Sie merkte, daß sie ihren Hut im Bus liegengelassen und vergessen hatte, Strümpfe anzuziehen. Die Kathedrale war plötzlich erfüllt von schimpfenden, befehlenden, fordernden Männerstimmen. Mit unsicherem Schritt ging Helen wieder in die Sonne hinaus.
Nach einer Weile bemerkte sie, daß sie in einer kleinen, ihr fremden Gasse zwischen schmalen Reihenhäusern war. Wäsche trocknete in der Sonne, und in einem Kinderwagen, der auf dem Bürgersteig stand, weinte ein Baby. Helen trat an den Wagen heran und blickte hinein. Das Kind war noch sehr klein, das Gesichtchen war krebsrot, der kleine Mund zornig aufgerissen. Helen sah sich nach der Mutter um, konnte aber niemanden entdecken. Als sie den Säugling aus dem Wagen nahm, spürte sie, daß seine Windel feucht war, und sah die Flecken getrockneter Milch auf seinem zerlumpten blauen Anzug. Sie drückte ihn an ihre Schulter und klopfte ihm den Rücken. Das Weinen wurde leiser. Sie schloß die Augen und spürte mit Entzücken den warmen, weichen kleinen Körper. Genau wie Thomas, genau wie Michael. Der Wagen hatte keine Plane. Sicher war zum Teil die Sonne an dem Unbehagen des Kleinen und an der Röte seines Gesichts schuld, dachte sie. Der Wagen war alt und klapprig, das Laken zerrissen und verfärbt. Bald spürte Helen nur noch die kleinen rhythmischen Stöße, die den Körper des Kindes durchzuckten, als sein Schluchzen nachließ und es einschlief.
»Michael«, flüsterte sie und küßte den Säugling sehr sanft auf das flaumige Köpfchen. Dann ging sie, das Kleine immer noch an die Brust gedrückt, die Gasse hinunter.
18
Von den Genossen, mit denen Joe am Jarama gekämpft hatte, war nur noch David Talbot übrig. Er hatte gesehen, wie seine Freunde erschossen, von Bomben und Granaten zerrissen worden waren, und hatte selbst doch nur einige Kratzer und Brandwunden davongetragen. Mit jedem Tag, der verging, hatte er das Gefühl, daß sein Glück ihn bald verlassen mußte.
Dabei war es nicht so, daß er die neun Monate in Spanien unversehrt überstanden hatte. Er wußte, daß etwas in seinem Inneren im Begriff war zu zerbrechen, eine Folge all dessen, was er gesehen, was er ausgehalten hatte. Er konnte an sich die körperlichen Symptome der Erschöpfung erkennen – Gewichts- und Appetitverlust, krampfartige quälende Magenschmerzen –, aber das war es nicht. Er hatte die Hoffnung verloren. Seit Mai, als die republikanischen Gruppen untereinander uneins geworden und sich in Barcelona gegenseitig bekämpft hatten, waren Joe alle seine Befürchtungen für Spanien zur Gewißheit geworden. Er wußte jetzt mit glasklarer, bitterer Sicherheit, daß die Republik nicht siegen konnte. Selbst die Hilfe der Sowjetunion war gefährdet durch die Furcht Stalins, die Demokratien könnten sich, um ihre Mißbilligung zu demonstrieren, mit den Diktaturen gegen Sowjetrußland verbünden. Die großen Demokratien fürchteten offenbar den Kommunismus mehr als den Faschismus. Zerrüttet und zerstritten, ohne auf Hilfe hoffen zu können, würde Spanien die Beute der Faschisten werden. Ein letztes Bollwerk würde fallen, einer finsteren Zukunft wäre Tür und Tor geöffnet.
Für Joe ging es jetzt nur noch ums Überleben. Alle seine großen Ideale lagen von Kugeln und Granaten zerfetzt neben den Kameraden, die er verloren hatte, in der steinigen spanischen Erde. Das einzige, was jetzt noch für ihn zählte, war, jeden Tag heil hinter sich zu bringen, wachsam zu sein, keine Heldentaten zu versuchen, das zu tun, was von ihm verlangt wurde, und nicht mehr. Er pflegte die Maxim-Gewehre mit fanatischer Besessenheit, voll Furcht, sie könnten genau dann versagen, wenn sie
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