Das Winterhaus
gekochtem Kohl und irgendeinem undefinierbaren Mief. Der Teppich auf der Treppe war fadenscheinig, und die Stores am Fenster waren vergilbt.
Schließlich erschien eine Frau, die sich als Miss Turner vorstellte, Miss Summerhayes' Wirtin. Miss Turner trug ihr Haar in einem Netz und war in ein ungewöhnliches und völlig formloses Ensemble aus burgunderrotem Pannesamt und Spitze gekleidet. Miss Turner erklärte ihr, daß Miss Summerhayes über Weihnachten ins Ausland gefahren sei. Ob Mrs. Merchant eine Nachricht hinterlassen wolle? Ob Mrs. Merchant – ein hoffnungsvoller Blick, einen Schritt näher – vielleicht den Wunsch habe, auf andere Weise Kontakt aufzunehmen? Die Astralebenen seien um diese Jahreszeit sehr aktiv …
Maia lehnte dankend ab und floh. Draußen auf der Straße sah sie in ihre Handtasche und stellte fest, daß sie beinahe ihr ganzes Geld für das Taxi ausgegeben hatte. Sie stand auf dem Bürgersteig und wußte nicht, was sie tun sollte, und merkte, daß sie den Tränen nahe war. Sie und Vernon waren natürlich unendliche Male in London gewesen, aber niemanden unter den Leuten, denen sie dort begegnet war, hätte sie als Freund bezeichnen können. Sie erkannte, daß sie nur zwei Freundinnen auf der Welt hatte, Robin und Helen. Robin war im Ausland, und zu Helen konnte sie nicht, weil Helens Vater ihr garantiert sagen würde, es sei ihre Pflicht, zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie wischte sie entschlossen fort und ging los, die Straße hinunter.
Da sie nicht genug Geld hatte, mußte sie die Untergrundbahn nehmen, um zum Bahnhof in der Liverpool Street zurückzufahren. Die Leute starrten sie an in ihrem Pelz und ihrem Schmuck; zwei Fabrikmädchen ahmten sie spöttisch nach. Sie wußte, daß sie keine andere Möglichkeit hatte, als zu Vernon zurückzukehren. Sie hatte niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Zweimal verfuhr sie sich, nachdem sie, müde und durcheinander wie sie war, die Karten nicht richtig gelesen hatte. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen; von Übelkeit geplagt und deprimiert, hatte sie am Morgen alles außer Tee abgelehnt. Als sie endlich den Bahnhof erreichte, zwang sie sich, sich hinzusetzen und ein Brötchen zu essen und eine Tasse Tee zu trinken, weil sie Angst hatte, sie könnte sonst ohnmächtig werden. Während sie in der Teestube saß und das Brötchen hinunterwürgte, hörte sie draußen die Kapelle der Heilsarmee spielen. »Oh, du fröhliche …« Sie hatte vergessen, daß Heiliger Abend war.
Erst um sieben Uhr war sie wieder zu Hause. Als sie die Auffahrt hinaufging, sah sie, daß alle Lichter brannten. Im ersten Moment hatte sie keine Ahnung, warum, dann fiel es ihr wieder ein. Sie gaben ein Fest. Sie und Vernon gaben eine Weihnachtsfeier für das Personal von Merchant.
Sie blieb stehen, starr vor Entsetzen, die Hände auf den Mund gedrückt. Musik schallte gedämpft durch die Fenster. Das Haus, das Maia einst so herrlich erschienen war, so großartig, wirkte jetzt massig und finster und bedrohlich. Sie hörte Schritte auf dem Kies und fuhr zusammen.
Aber es war nur ihr Mädchen, nicht Vernon. »Mr. Merchant hat gesagt, ich soll nach Ihnen Ausschau halten, Madam. Sie möchten hinten hineingehen und sich so schnell wie möglich umziehen. Er hat den Gästen gesagt, daß Sie eine Migräne haben und sich ein Weilchen hinlegen mußten.«
Maia folgte dem Mädchen durch die Küche und ging über die Personaltreppe nach oben. In ihrem Schlafzimmer nahm sie in aller Eile ein Bad, ehe sie ein Kleid aus mitternachtsblauer Spitze anlegte. Unten küßte sie Vernon auf die Wange und begrüßte die Verkäuferinnen und Verkäufer und die Abteilungsleiter. Sie wußte, daß diese sie beneideten, aber sie beneidete diese Menschen noch viel mehr. Sie wußte, daß sie bestraft werden würde. Wenn sie Vernon ansah, lächelte er ihr zu, höflich und liebevoll, der gute Ehemann. Aber er trank ohne Unterlaß, und sie wurde mit dem Fortschreiten des Abends immer nervöser.
Die letzten Gäste gingen um ein Uhr morgens. Maia blieb im Salon zurück und lauschte dem Rumoren der Dienstboten, die in der Küche noch aufräumten. Sie fühlte sich nicht nur seelisch erschöpft, sondern, ungewöhnlich bei ihr, auch körperlich fragil. Gerade sie, die auf ihre robuste Gesundheit immer stolz gewesen war.
Genau wie sie befürchtet hatte, hörte sie Vernon sagen: »Du bist spät gekommen, Maia. Warum?«
»Ich habe Helen besucht«, log sie,
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