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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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später bekanntgab, lautete auf Tod durch Unfall, und Robin wußte, daß sie die einzige war, die das Aufblitzen in Maias Augen sah, kurz bevor das Urteil verlesen wurde. Ein Aufblitzen der Hoffnung vielleicht, oder der Furcht? Jedenfalls nicht des Schmerzes, dachte Robin, als der Schleier wieder über Maias bleiches Gesicht fiel. Ganz gewiß nicht Schmerz.
    »Gott sei Dank, daß das vorbei ist«, flüsterte Daisy und drückte Robin die Hand. »Die arme Maia. Schrecklich, daß ihr so etwas passieren muß.«
    Sie wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. Ohne ihrer Mutter zu antworten, drängte sie sich aus dem Saal, in dem es plötzlich heiß und stickig zu sein schien. Sie war noch nicht imstande, zu Maia zu gehen, sich in die Menge derer einzureihen, die ihr kondolierten. Sie hatte drei wichtige Meilensteine im Leben einer Frau hinter sich gebracht, dachte Robin, während sie tief die kalte, frische Luft einatmete. Sie hatte eine Arbeit, die sie befriedigen würde, sie war gereist, sie hatte einen Liebhaber. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, zu dieser bleichen, starren Frau zu gehen und diese Dinge mit ihr zu teilen. Das war ein Versprechen aus der Kindheit. Sie waren jetzt keine Kinder mehr.
    Sie fragte sich, ob sie, wären ihre schlimmsten Befürchtungen wahr, gewünscht hätte, daß das Urteil anders ausfallen würde. Ob sie, hätte man sie in den Zeugenstand gerufen, nicht auch gelogen hätte. Ob sie, wenn Maia den Tod ihres Mannes verschuldet hätte, nicht eine gewisse Gerechtigkeit darin gesehen hätte. Sie wußte es nicht.
    Alles gehörte jetzt ihr. Das Geld, das Haus, das Geschäft. Entweder hatte Vernon sich nicht vorstellen können, daß er jung sterben könnte, oder es war seine letzte Zahlung an sie, Maia, die Hure.
    Irgendwie hatte sie es überstanden. Ein kleines, beunruhigendes Problem blieb noch, aber sie war sicher, sie würde eine Lösung dafür finden. Sie blickte auf die Landkarten hinunter, die auf dem Bett ausgebreitet lagen. Sie würde mindestens sechs Monate auf Reisen gehen, und wenn sie dann nach Cambridge zurückkehrte, hätte aller Klatsch sich gelegt. Robin kannte ja auch nur einen Teil der Wahrheit, und an Robins Loyalität hatte sie nie gezweifelt. Wenn sie wieder nach Hause kam, so würde dies alles hier ihr gehören. Sie würde nie wieder etwas mit einem Mann teilen.
    Mit dem Gefühl, um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen zu sein, drückte Maia die Schlösser ihres Koffers zu.

Teil 2
     
    1930–1931  
     

5
     
    Im Rahmen ihrer Arbeit für Dr. Mackenzie lernte Robin ein anderes London kennen, und was sie sah, stürzte sie abwechselnd in Zorn und Verzweiflung. Ihre Notizen legten Zeugnis ab von den unmenschlichen Verhältnissen, unter denen andere lebten.
    »2 Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche. Miete 6 Shilling. Mann 31 Jahre, Frau 28, 5 Kinder im Alter von 10, 9, 7, 3 Jahren und 4 Monaten. Mann arbeitslos. Im Verzug mit der Miete. Hohe Arztrechnungen für den jüngsten Sohn, der Asthmatiker ist.« Und danach, irgendwie noch schlimmer, eine Beschreibung der unzulänglichen Ernährung, die hauptsächlich aus Brot, Margarine und Kondensmilch bestand.
    Manchmal, wenn sie an fremde Türen klopfte, wurde sie mit einem stolzen Kopfschütteln jener, die Almosen witterten, weitergeschickt. Manchmal wurde sie als Wichtigtuerin, die sich in fremder Leute Angelegenheiten mischte, beschimpft, und einmal wurde sie von einem Mann, der sie beschuldigte, für das Sozialhilfeamt zu arbeiten, so heftig hinausgestoßen, daß sie stürzte. Häufig begegnete ihr die Apathie, die sie als die am häufigsten auftretende und vielleicht schrecklichste Folge monate- oder jahrelanger Arbeitslosigkeit kennenzulernen begann, aber meistens wurde sie von den Leuten, denen jede Unterbrechung eines langen, ziellosen Tages willkommen war, freundlich aufgenommen.
    Mit Francis zusammen lernte sie ein wiederum anderes London kennen. Eine Stadt voll verqualmter Cafés, schummriger Nachtlokale und kleiner Restaurants. Eine Stadt mit dunklen, feuchten Straßen, die das erste dunstige Licht des Morgens verzauberte. Eine Stadt unerwarteter, geheimer Plätze, in der Menschen wie exotische Schmetterlinge durch ihr Leben flatterten.
    Im September 1930 saß Robin in einem verrauchten Kellerlokal und wartete. Es war fast elf Uhr, als sie aufblickte und Francis sah, der sich durch das Gewühl einen Weg zu ihr bahnte. Er neigte sich über sie und küßte sie, dann winkte er dem Kellner und bestellte zu

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