Das Winterhaus
Helen war sicher, daß sie noch aufgeregter war als Gussie. Erst vor ein paar Tagen hatte sie den Mut aufgebracht, ihren Vater um Erlaubnis zu bitten, die Familie Sewell auf ihrer Urlaubsreise zu begleiten. »Es ist ja nur für eine Woche, Daddy«, hatte sie gesagt. »Ich schreib dir jeden Tag.« Er hatte ihr nicht verboten zu fahren, und eine große Freude erfaßte sie, wenn sie an plätschernde Wellen, blauen Himmel und goldbraunen Sand dachte. Sie hatte angefangen, sich ein Badekostüm zu schneidern.
Es war vier Uhr. Helen setzte Thomas wieder in den Wagen und trat den Heimweg an. Sobald sie an der Straße zum Haus um die Ecke bog, wußte sie, daß etwas geschehen war. Mrs. Sewell stand am Gartenzaun, das etwas verblaßte, hübsche Gesicht heftig beunruhigt. Helen, die den Kinderwagen jetzt schneller vor sich herschob, wurde heiß.
Mrs. Sewell lief ihr entgegen. »Ach, Helen – Sie müssen sofort nach Hause fahren … wir haben einen Anruf bekommen … Ihr Vater …«
Helens Hände krampften sich um den Griff des Kinderwagens. »Ist Daddy krank?« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Ein Unfall, sagte man mir. Eine Schwester hat angerufen … mehr wollte sie mir nicht sagen … Mr. Ferguson ist in einem Krankenhaus in Ely. Ich würde ja Ronald bitten, Sie hinzufahren, aber er hat gleich eine Vorlesung, und ich selbst kann mit Automobilen einfach nicht umgehen … Sie sind so unberechenbar, wissen Sie, Helen, und man muß viele Dinge mit Händen und Füßen gleichzeitig tun. Aber in einer halben Stunde geht ein Zug …«
Auf der Eisenbahnfahrt von Cambridge nach Ely hatte sie viel Zeit, sich vorzustellen, was geschehen war. Ihr Vater hatte sich verbrüht, als er sich eine Tasse Tee machen wollte – oder Betty hatte ihm Fisch gekocht, den er nie vertrug; oder aus seiner Sommererkältung war eine Lungenentzündung geworden; oder Percy war ihm plötzlich vor die Füße geschossen, und er war die Treppe hinuntergestürzt.
Sie hatte Magenschmerzen vor Angst und rasendes Herzklopfen, als sie im Krankenhaus durch die hallenden, gewachsten Korridore eilte. Eine streng aussehende Schwester in gestärkter Uniform, die ihr zum Zimmer ihres Vaters folgte, teilte ihr blaffend mit, was geschehen war. »Ihr Vater hatte einen kleinen Sturz, Miss Ferguson. Er hat sich das Bein gebrochen, er ist ziemlich ausgekühlt und hat einen Schock.«
Es drückte ihr fast das Herz ab, als sie das Gestell über dem Bein ihres Vaters sah. Seine Haut war grau, und er lag tief in den Kissen. Nie zuvor hatte sie ihn so hilflos gesehen, so – alt.
»Daddy«, flüsterte sie und nahm seine Hand.
»Ich bin über den Gartenbesen gestolpert … irgend jemand hatte ihn auf dem Weg liegengelassen«, krächzte Julius Ferguson. Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Was für ein alberner alter Narr ich doch bin.«
Sie starrte ihn entsetzt an. Am vergangenen Abend hatte sie den Garten gekehrt. Sie konnte sich nicht um alles in der Welt erinnern, ob sie den Besen wieder weggestellt hatte.
»Der alte Shelton ist stocktaub«, erklärte Pastor Ferguson. Shelton war der Gärtner. »Und den Jungen hatte er heute nicht dabei. Ich hab mindestens eine Stunde dort gelegen. Die Mädchen im Haus konnten mich wahrscheinlich nicht hören. Ich hab mich fast heiser geschrien. Zum Glück kam ein Scherenschleifer vorbei. Der hat mich gefunden.«
Die Schwester hantierte geschäftig herum, zog die Decken und Laken zusammen. »Wir werden Mr. Ferguson einige Wochen hierbehalten müssen, Miss Ferguson, aber er wird sicher bald wieder auf den Beinen sein.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Julius Ferguson. »Ich kann Krankenhäuser nicht ausstehen, seit meine arme Frau …« Er sah Helen an. »Ich gehe nach Hause. Helen kann mich pflegen, nicht wahr, Hühnchen?«
Helen verbrachte die Nacht allein im Pfarrhaus, unfähig zu schlafen, verfolgt von Bildern ihres Vaters, wie er frierend und von Schmerzen gequält draußen im Garten lag. Um fünf Uhr morgens stand sie auf und begann das Haus sauberzumachen. Jetzt sah sie die Folgen ihrer monatelangen Abwesenheit: den Staub, der sich auf jedem (Regal-)Bord gesammelt hatte; die Flusen in den Ecken der Treppenstufen; die Spinnweben an den hohen Zimmerdecken.
Als sie alles saubergemacht hatte, schrieb sie ihren Brief an Mrs. Sewell. Sie fing an zu weinen, als ihr klar wurde, daß sie Gussie und Thomas gar nicht richtig auf Wiedersehen gesagt hatte, und sie kreuzte ihre Arme auf ihrer
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