Das Winterhaus
hier gesprochen wurde, streng vertraulich ist.«
Sie sah ihnen nach, als sie aus dem Zimmer gingen. Dann sammelte sie ihre Papiere ein und begab sich in ihr Büro. Sie öffnete ihren Aktenschrank und sah, wie ihre Finger zitterten, als sie den Pfropfen der Whiskyflasche umfaßten.
»Ein bißchen früh am Morgen, meinen Sie nicht, Mrs. Merchant?« sagte jemand hinter ihr. Sie wirbelte herum. Liam Kavanagh war in ihr Büro gekommen.
»Ja, da haben Sie wahrscheinlich recht.«
»Aber ich hatte eben den gleichen Gedanken, um ehrlich zu sein.« Sie lächelte, fröstelnd vor Erleichterung, und bot ihm das Glas. »Ich habe nur das eine Glas. Es stört Sie doch nicht, mit mir zu teilen, Liam?«
Nach der ersten Woche in ihrer neuen Stellung wurde Helen sich bewußt, daß sie glücklich war. Anfangs hatte sie große Ängste gehabt, daß sie den Anforderungen nicht genügen würde. Doch sie merkte bald, daß ihre Arbeitgeber, die Sewells, wirklich die angenehmen Menschen waren, als die Mrs. Lemon sie ihr geschildert hatte. Mr. Sewell unterrichtete an der Universität; Letty, seine Frau, war ein etwas flatterhaftes, gutmütiges, großzügiges Wesen. Sie hatten nur zwei Kinder: Augusta, ein kleines Mädchen von drei, und Thomas, ein dralles Baby von sechs Monaten. Das Kinderzimmer war groß, gut ausgestattet und chaotisch. Mrs. Sewell, die Helen durch das Haus führte, entschuldigte sich immer wieder für die Unordnung. »Ich habe versucht, ohne ein Kindermädchen auszukommen, meine Liebe – das schaffen ja andere Leute heutzutage auch. Ich hatte ein Mädchen, aber sie hat vor sechs Wochen geheiratet – ein sehr angenehmes Mädchen, und ihr Freund ist auch sehr nett, und ich freue mich, daß die beiden so glücklich miteinander sind … Gussie hing sehr an ihr … ein hübsches Zimmer, finden Sie nicht auch, und es hat natürlich den Blick zum Garten. Gehen Sie in den Garten, wann immer Sie wollen, Helen … er ist wirklich schön, nicht wahr, gerade nach dem Mittagessen …«
Die ersten ein, zwei Tage schwirrte Mrs. Sewell ständig um Helen herum und überschüttete sie mit einem Strom von Belanglosigkeiten. Dann nahmen wieder ihre anderen Interessen – ihr Ehemann, ihre zahlreichen Freunde und Bekannten – sie in Anspruch, und Helen hatte Ruhe, um ihre beiden Schützlinge kennenzulernen. Gussie war blond, ernsthaft und ordentlich. Thomas hatte oben in der Mitte zwei erste Zähnchen und ein Lächeln, mit dem er Helens Herz im Sturm eroberte. Am Ende der Woche hatten Helen und Gussie gemeinsam das Kinderzimmer aufgeräumt, die Bücher in der einen Ecke aufgestellt, die Spielsachen in der anderen und einen kleinen Platz frei gemacht, wo sie ihr zweites Frühstück und ihr Abendbrot einnehmen konnten. Helen arbeitete von Montag bis Freitag und fuhr jeden Abend nach Hause.
Schon nach sechs Wochen bei den Sewells fiel es ihr schwer, sich an ein Leben ohne diese Familie zu erinnern. Die letzten Jahre waren irgendwie geschrumpft, so daß sie sich nur weniger, über Monate verstreuter Geschehnisse erinnern konnte. Jetzt hingegen schienen ihre Tage vollgepackt zu sein mit Erlebnissen. Zu Anfang war sie schockiert über das Familienleben der Sewells: da brüllte Mr. Sewell, nur in Pyjama und Morgenrock gekleidet, lauthals nach heißem Wasser zum Rasieren; da schimpfte Mrs. Sewell ihren Mann aus, weil er vergessen hatte, daß sie zum Abendessen bei Mrs. Sewells Mutter eingeladen waren. Helen fand diese Dinge verwirrend und leicht beunruhigend. Das unbekümmerte Chaos im Haus – Kinderspielsachen auf der Treppe verstreut, stapelweise Zeitungen, Journale und Zeitschriften im Wohnzimmer – machte ihr angst, und in den ersten vierzehn Tagen fühlte sie sich ständig irgendwie verantwortlich für die allgemeine Unordnung. Die fröhliche Ungezwungenheit dieses Hauses, wo die Köchin Mr. Sewell die Leviten las, weil er im Garten das gute Porzellan benützt hatte, und wo Mrs. Sewell und Helen oft zusammen in der Küche eine Tasse Tee tranken, war ihr so fremd, daß sie ständig eine große Katastrophe erwartete. Bis sie eines Tages plötzlich erkannte, daß die Sewells ihr Leben genauso führen wollten. Seitdem empfand sie, wenn sie abends ins Pfarrhaus heimkehrte, die Stille in dem alten Haus als bedrückend und gewahrte, wie abgeschnitten von der Welt Thorpe Fen war, wie einsam sie ihre letzten Jahre verbracht hatte.
Als sie eines Tages bei Merchant für Gussie neue Stiefel kaufte, sah sie Maia und winkte wie eine Wilde. Maia,
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