Das Winterhaus
Brust und wiegte sich ein wenig hin und her, so als hielte sie den Kleinen wieder in den Armen. Eine große Welle des Zorns gegen ihren Vater überschwemmte sie, aber dann sah sie ihn wieder bleich und hilflos in seinem Krankenbett und wurde von Schuldgefühlen überwältigt. Plötzlich mußte sie raus; die kahlen, düsteren Korridore, selbst das Ticken der Uhren erfüllten sie mit einer namenlosen Furcht. Am Spülbecken wusch sie sich das Gesicht, dann nahm sie ihren Brief und ging zum Briefkasten.
Ein starker Wind war aufgekommen und peitschte die trockene feine Erde der Felder und Moore auf. Als sie den Briefkasten am Ende des Weges erreichte, flogen ihr Staubteilchen in die Augen und setzten sich in ihr Haar. Als sie ihre Augen abschirmte, konnte sie die Staubwirbel sehen, die durch die Furchen der gepflügten Felder rasten und die jungen Weizenhalme knickten. Ein Fen-Sturm konnte für die Bauern die Katastrophe bedeuten; Helen, die zum immer finsterer werdenden Himmel hinaufblickte, fühlte, wie die Last ihrer Angst noch drückender wurde. Die Landschaft schien sich um sie herum zu verschließen und sie vom Rest der Welt abzuschneiden. Der Wind blies heftiger, zerrte an ihrem Rock, schleuderte tausend winzige spitze Erdkrümel gegen ihre Beine. Staubwolken stiegen zum Himmel auf und verdunkelten die aufgehende Sonne. Der Himmel war dunkel und unheildrohend, alles Grün der Erde ausgelöscht von Wind und Staub. »Er verschlingt die Erde mit Ingrimm und Wut«, dachte Helen, während sie dort stand und zusah, wie die unnatürliche Nacht von den Fens Besitz ergriff.
Da so viele kleine Firmen aufgeben mußten, kam über die Druckerpresse kaum noch Geld herein. Joe, den die Ziellosigkeit seines Lebens immer noch quälte, sah sich nach anderer Arbeit um, fragte bei Automobilwerkstätten nach, bei Bauwarenhandlungen, am Hafen. Aber Hunderte junger Männer wie er waren auf Arbeitssuche, und viele der Bauwarenhandlungen waren geschlossen, und bei den Hafenarbeitern war es gewöhnlich so, daß die Arbeit schon seit Generationen immer vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Abends arbeitete er im Pub, wohl wissend, daß er von Glück reden konnte, überhaupt Arbeit zu haben. Bei Tag engagierte er sich in zunehmendem Maß für die Aktivitäten der National Unemployed Workers' Movement – der nationalen Arbeitslosenbewegung – und nahm an den Märschen der NUWM ebenso teil wie an ihren Demonstrationen vor Arbeitsämtern. Da die NUWM eine von den Kommunisten gestützte Organisation war, hatte die Labour Party keine offiziellen Verbindungen zu ihr, viele Mitglieder der Labour Party jedoch, die mit den hart geschlagenen Arbeitslosen sympathisierten, halfen heimlich, indem sie Lebensmittel und Schlafgelegenheiten für die Marschteilnehmer zur Verfügung stellten und ihre Räumlichkeiten vor Versammlungen öffneten.
Im Juni kehrte Vivien nach England zurück, und Francis wollte zu ihrem Empfang ein großes Fest geben. Ein Kostümfest, erklärte er, und Joe, der seit Wochen einen öden Abend nach dem anderen für öde Leute Bier zapfte, freute sich darauf, sich eine herrliche Nacht lang hemmungslos betrinken zu können. Francis lieh sich von einem seiner reichen neuen Freunde ein Automobil, und sie fuhren am Samstagmorgen nach Long Ferry hinunter. Selena und Guy reisten mit der Eisenbahn nach Suffolk. Robin saß vorn neben Francis, und Joe nickte wie schon gewohnt auf dem Rücksitz ein.
Er erwachte, als sie durch das große Tor von Long Ferry Hall fuhren. Schleudernd, in eine dicke Staubwolke gehüllt, hielt der Wagen vor dem Haus an. Die Luft roch nach Meer; Joe rieb sich die Augen. Francis stieg aus dem Wagen und blieb, Arm in Arm mit Robin, stehen, um das Haus zu betrachten. Himmel – schaut euch das Unkraut an«, sagte er. Joe sah Kreuzkraut und Ampfer, die zwischen den Steinplatten des Hofes durchstießen. In den Rinnsteinen wucherte Farn, und der Rosenstrauch, der sich üppig um das große Portal wand, war holzig geworden und trug keine Blüten. Die Sonne glänzte auf den alten Zinnen und Wasserspeiern, die das Dach schmückten, und in den staubigen Fenstern spiegelte sich trübe das Licht. Long Ferry Hall war wie eine alternde schöne Frau, immer noch stolz und immer noch elegant in der Zeit des Verfalls.
Thema des Kostümfestes sollte, wie Francis erklärte, »Schauer und Grusel« sein. Long Ferry Hall sollte ganz in Spinnweben und Geheimnis gehüllt sein – nicht schwierig, dachte Joe, der sich in der großen
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