Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
zumindest die Reste der gestrigen Pizza-Session entsorgen. So räumte sie rasch die Küche auf, machte sich noch einen Espresso und wanderte mit der Tasse in der Hand ziellos in der Wohnung herum.
Die Türklingel riss sie mit einem Mal aus ihren Gedanken.
Kim öffnete die Wohnungstür und zog bei dem Anblick, der sich ihr bot, die Augenbrauen hoch. »Carolin? Was machst denn du hier?«
Carolin Gruber, die in Französisch und Kunst neben Kim saß, lehnte am Türrahmen. Ihre blonden Locken waren unter einer roten Rentiermütze mit passendem Schal verborgen. Sie blickte Kim mit undurchdringlicher Miene an. »Kann ich kurz mit dir reden?«
»Klar, komm rein. Warum hast du nicht vorher angerufen?«
»Du bist doch da«, gab Carolin zurück und trat in den Flur.
Kim schloss die Tür hinter ihr. »Magst du auch noch einen Kaffee?« Sie kannte Carolin kaum, hatte noch nie mehr als drei Worte mit ihr gewechselt, die sich nicht auf den Unterricht bezogen hatten.
Carolin schüttelte den Kopf, marschierte aber zielstrebig in die Küche. »Kalt hier«, kommentierte sie.
»Ich lüfte gerade«, erklärte Kim und deutete auf die offene Tür, die von der Küche aus auf den kleinen Balkon führte.
»Also, was ist?«, fragte Kim.
»Ich habe eine Botschaft für dich.« Carolin schien noch immer in den Anblick der Linde versunken, und Kim verstand sie kaum.
So schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Botschaft? Von wem denn? Jetzt mach es doch nicht so spannend. Hat dich etwa die Berger geschickt?«
Carolin wandte sich für einen Moment um und sah Kim mit einem traurigen Lächeln an. »Es wird noch viel schlimmer für dich werden. Du wirst dir wünschen, nie wieder zu träumen. Wenn ich gehe, bleibt dir nur noch die Angst«, sagte sie.
Dann rannte sie hinaus auf den Balkon, schwang sich übers Geländer und sprang in die Tiefe.
»Carolin, nein! Nein!« Kims Schrei hallte in dem Innenhof wider. Sie stürzte zur Brüstung und sah fassungslos hinunter. Um sie drehte sich alles wie in einem Strudel, und sie musste sich an dem eiskalten Metall festhalten.
Carolin lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster, neben der großen Linde. Eine dunkle Blutlache breitete sich um sie herum aus, wie ein Loch in der Erde. Auf einem der Äste über ihr tanzte eine kleine Kohlmeise hin und her und sah neugierig hinab.
Kim stöhnte auf und rannte nach unten. Sie musste sich am Treppengeländer festhalten, ihre Knie zitterten. Im Hof angekommen, sank sie neben Carolin auf den Asphalt. »Hörst du mich?«, schrie sie immer wieder, »Carolin? Carolin!«
Die Kälte kroch ihr in die Knochen, breitete sich aus, lähmte sie. Die nächsten Minuten erlebte Kim wie in Trance.
Der entsetzte Hausmeister, die hektischen Männer der Ambulanz in ihren knallroten Jacken, die Polizeibeamten, methodisch und hilfsbereit.
Carolin, die immer noch ihre Rentiermütze aufhatte und sich nicht mehr rührte.
Die dunkel glänzende Blutlache auf dem Asphalt, die immer größer wurde.
Das Hämmern in Kims Kopf, das nicht mehr nachließ.
Die Sanitäter hatten Kim eine Decke umgelegt und sie zurück in die Wohnung begleitet. »Ihr Vater ist schon auf dem Weg«, sagte einer von ihnen beruhigend und drückte Kim eine Tasse Tee in die Hand. Sie griff danach, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass der heiße Tee überschwappte und auf ihre Knie tropfte. »Aua«, fluchte sie leise, während Tränen über ihre Wangen strömten. Sie machte keine Anstalten, sie zu unterdrücken.
Ein Kriminalbeamter in Jeans und aufgekrempeltem Holzfällerhemd, der sich bereits unten im Hof als Kommissar Sand berg vorgestellt hatte, betrat das Wohnzimmer, blickte sich kurz suchend um und setzte sich schließlich neben Kim. Behutsam nahm er ihr die Tasse aus der Hand und sah sie forschend an. Kim war totenblass, sie zitterte trotz der Decke, und ihre Augen hatten einen gehetzten Ausdruck.
»Können wir kurz reden?«, fragte er. »Schaffen Sie das, Kim? Ich darf Sie doch so nennen?«
»Ja«, gab Kim zurück und schniefte. »Entschuldigung, wer sind Sie noch mal?«
»Tristan Sandberg. Kriminalpolizei.«
»Komischer Name«, murmelte Kim.
»Gar nicht komisch. Und nein, meine Eltern waren keine Opernfans«, erklärte Sandberg wie nebenbei und reichte ihr ein Taschentuch.
»Hm …« Kim schnäuzte sich, zog die Decke enger um die Schultern und starrte vor sich hin.
»Erzählen Sie einfach. Von Anfang an.« Sandberg hatte einen Notizblock in der Hand, aber er schrieb nichts auf,
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