Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
Gesicht war ganz nah, Kim konnte die goldenen Spreng sel in seiner Iris erkennen. Einen Moment lang vergaß sie zu atmen. Was mache ich bloß, wenn er mich jetzt küsst, schoss es ihr durch den Kopf. Überrascht stellte sie fest, dass sie in diesem Moment gar nichts dagegen hatte. Mehr noch, ein Kuss wäre genau das Richtige, um sich eine Weile von ihrer Welt zu verabschieden …
Doch Matthew tat nichts dergleichen. Er legte ihr locker die Hände auf die Schultern, sah ihr in die Augen. »Rede mit mir«, flüsterte er.
Kim schluckte trocken und starrte auf seine Lippen. Dann brach sie den Bann, indem sie einen Schritt zurückwich. »Wenn du so nah vor mir stehst, kann ich nicht denken«, protestierte sie verlegen.
»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Matthew heiser.
»Weiß ich noch nicht. Komm, lass uns weitergehen.« Kim nahm ihm die Sonnenbrille aus der Hand, setzte sie wieder auf und ging energisch voran. Wortlos folgte ihr Matthew, und so liefen sie bis zur nächsten Flussbiegung schweigend hintereinander her.
Unter der Eisenbahnbrücke, kurz vor dem Tierpark, war es schattig und kalt. Kim blieb kurz stehen und beobachtete nachdenklich ein Entenpärchen, das sich flussabwärts treiben ließ und die zaghafte Sonnenwärme auf den Federn genoss.
Was würde Matthew von ihr denken, wenn sie ihm erzählte, was mit ihr los war? Die Antwort war einfach: Es war ihr egal. Sie musste mit jemandem reden, sonst platzte sie. Ihre Eltern kamen nicht infrage, nach Jennas Unfall konnte sie ihre Mutter nicht auch noch mit solchen Problemen belasten. Simone war ihr in den letzten Wochen eher fremd geworden, die Vertrauens lehrerin der Schule hieß Dr. Berger.
Blieb also nur Matthew. Der ohnehin nach sechs Monaten wieder aus ihrem Leben verschwinden würde. Die ungefährlichste Variante.
Das Rauschen des Wassers klang in ihren Ohren, ließ ihren jagenden Herzschlag langsamer werden, bis sie reden konnte, ohne das Gefühl zu haben zu ersticken.
»Ich habe seit Monaten Albträume«, begann sie so leise, dass Matthew sie kaum verstand. »Jemand ruft mich. Ein ganzer Chor von Stimmen ruft nach mir. Es ist so verdammt real. Und weil ich mich im Traum dagegen wehre, krieg ich diese scheußlichen Kopfschmerzen. Die bleiben dann den ganzen Tag über. Deswegen kann ich nicht mehr lernen. Und verhaue eine Klausur nach der andern.«
»Deshalb war deine Mutter bei der Berger?«
»Mhm.« Kim wurde feuerrot. »Das war ein Desaster. Meine Mutter macht sich Sorgen um mich. Sie glaubt, es liegt an den Hormonen. Oder an der Berger selbst.« Sie grinste schief und fuhr dann fort: »Das ist sicher ein Teil des Problems. Vertrauens lehrerin? Dass ich nicht lache. Aber wie kann ich meiner Mutter sagen, dass ich von Stimmen in meinen Träumen gejagt werde? Sie schickt mich zum Psychiater. Und hat damit wahrscheinlich auch noch recht.«
Mit diesen Worten ging sie ein paar Schritte weiter und ließ sich auf eine Holzbank sinken, die am Ufer stand. »Scheiße!«, fügte sie inbrünstig hinzu.
Matthew setzte sich neben sie und nahm erneut ihre Hand in seine. »Was wollen die Stimmen denn von dir?«, fragte er sachlich.
Kim zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Aber im Traum denke ich immer, dass es nicht gut ist. Dass ich nicht tun darf, was sie von mir wollen. Bescheuert, nicht?«
»Ganz und gar nicht«, sagte Matthew. »Du weißt doch auch im echten Leben, was richtig und falsch ist. Das weißt du also auch im Traum. Das ist gut.«
»Du glaubst nicht, dass ich spinne?«
Matthew schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, Kim. Ob dich jemand wirklich ruft, weiß ich nicht. Aber …« Er beendete den Satz nicht.
Kim lehnte sich zurück, die Sonne wärmte ihr Gesicht. Am liebsten hätte sie geweint. »Ich fühle mich so verdammt hilflos«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ehrlich gesagt, würde ich am liebsten irgendwelche Tabletten nehmen – nur damit ich mal wieder eine Nacht durchschlafen kann. Ich bin so müde, so entsetzlich müde, ich kann dir gar nicht sagen wie sehr.«
Ein Labrador kam vorbeigelaufen, sank mit allen vier Pfoten immer wieder in den Schnee ein, freute sich aber offensichtlich an der kalten Pracht. Er sprang auf den Weg, lief langsam bis zu ihrer Bank, stellte die Ohren auf und schaute Kim erwartungsvoll an. Diese lächelte, beugte sich nach vorn und strich dem Hund über den Kopf.
»Bist du allein unterwegs?«, fragte sie und schaute sich suchend um. Flussabwärts war jemand zu sehen,
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