Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
wartete, bis die Straßen wieder trocken waren.
Der kleine Wagen war von einer dicken Schneeschicht bedeckt. Jenna wischte mit dem Handschuh hastig ein Guckloch in die Scheiben, setzte sich hinter das Steuer und betete, dass der Fiat ansprang. Doch – dem Föhnwind sei Dank – der Motor begann zu schnurren.
Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, fuhr Jenna durch die Stadt. Sie wusste nicht wohin, aber sie folgte dem Ruf. Da war jemand, der flüsterte und wisperte, sie leitete. Jenna fuhr und fuhr und betete, dass sie nicht zu spät kam.
In der Kundigundenstraße war alles still. Nur die schmale Gestalt, die zusammengesunken vor dem altrosa Haus lag, wollte nicht in die Idylle passen. Jenna hielt den Fiat an, zog die Handbremse und sprang bei laufendem Motor hinaus.
»Kim!«, rief sie und rannte wie von Sinnen zu ihrer Tochter, kniete sich hin und nahm sie vorsichtig in die Arme.
Kim rührte sich nicht. Sie war totenblass, der Lippenstift verwischt, Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. Ihr Atem kam flach und stoßweise.
Jenna schüttelte sie vorsichtig. »Komm schon, Kim, du musst aufwachen! Ich kann dich nicht tragen.« Ihre Stimme klang panisch. Verzweifelt gab sie Kim leichte Klapse auf die Wangen.
Das schien zu wirken, denn Kim schlug die Augen auf. »Mam?«, krächzte sie.
»Lieber Himmel, meine Kleine, was ist passiert?«, gab Jenna erleichtert zurück. »Kannst du aufstehen? Wir fahren nach Hause.« Sie half Kim auf die Beine. »Wo ist deine Jacke? Hat Matthew dich verletzt?«
»Weiß nicht … Ein Hustenanfall schüttelte Kim. »Matthew hat nicht … er hat nicht …« Sie schwankte und musste sich an ihrer Mutter festhalten.
Jenna zuckte zusammen, als der Schmerz durch ihre Rippen schoss. »Schon gut, das kannst du mir später erzählen. Los, komm, wir müssen hier weg. Schnell!«
In diesem Moment erloschen die Straßenlampen, und eine bleierne Schwärze schien selbst den Mond zu verdecken. Gleich zeitig verstummte der Motor des Fiats. Hinter sämtlichen Fens tern wurde es schlagartig dunkel. Nur noch im zweiten Stock des Hauses brannte weiter ein einsames Licht.
Jenna sah sich um, suchte nach einem Ausweg, versuchte die Angst, die sich in ihre Eingeweide krallte, abzuschütteln.
Doch es war zu spät, um irgendwohin zu gehen.
Wie aus dem Nichts erschien ein hoch gewachsener Mann und überquerte die Straße. Er schien die beiden Frauen nicht zu beachten. Sein dunkelroter Mantel wehte im Nachtwind. Unter der Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, lugten ein paar blonde Haarsträhnen hervor. Jenna starrte ihn mit offenem Mund an. Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Ge ruch von Moder und Rauch umhüllte ihn. Achtlos schritt er an Jenna und Kim vorbei und verschwand zielstrebig in dem altrosa gestrichenen Haus.
Doch Jenna hatte für einen Augenblick sein Gesicht gesehen.
Glitzernde Augen. Eine blutrote Narbe.
Sie hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt.
Außer sich vor Angst riss sie Kim mit sich. Kaum hatten sie den Wagen erreicht, drückte Jenna Kim auf den Beifahrersitz und griff nach ihrem Handy. Alex! Sie brauchte Alex’ Hilfe. Verzweifelt drückte sie auf die Tasten.
Doch das Display war dunkel und tot. So sehr es Jenna auch versuchte, das Handy gab keinen Pieps von sich.
Sie stürmte um die Motorhaube herum und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Warum war der Motor ausgegangen? Jenna drehte den Zündschlüssel, versuchte zu starten.
Nichts. Der Fiat blieb stumm.
Die Lampen der Straßenbeleuchtung waren alle ausgefallen. Nur der Vollmond stand über ihnen und schien milde zu lächeln.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Jenna. »Los, du verdammtes Auto, spring an. Spring an!«
Kim hatte den Kopf an die Stütze gelehnt, sah ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an.
Jenna schüttelte den Kopf, hin und her gerissen zwischen Panik und Zorn. »Sag bloß nichts. Kein Wort. Was um Gottes willen hast du dir dabei gedacht? Was hast du eigentlich gemacht? Ich bin fast gestorben vor Angst. Du bekommst lebenslangen Hausarrest, verlass dich drauf. Wenn wir endlich von hier wegkommen!«
Zum zehnten Mal drehte sie den Schlüssel im Zündschloss, aber das Auto gab immer noch keinen Mucks von sich.
Schließlich gab sie auf. Erschöpft legte Jenna die Arme aufs Lenkrad und ließ sich mit der Stirn nach vorn sinken. Sie begann unkontrolliert zu zittern. Alles schien ihr zu entgleiten. Die Realität, ihr Leben, ihre Tochter, ihre Kraft. Das Gefühl der Verzweiflung war
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