Das Wispern der Schatten - Roman
ein bisschen warten«, sagte Ash schlicht.
Jillan schloss die Hände um den dampfenden Becher, um sie zu wärmen, und nippte daran. Der Tee schmeckte etwas beißend– seine Mutter hätte einen Löffel Honig hineingerührt–, aber er sorgte immerhin dafür, dass ihn ein wenig Wärme durchströmte.
» Wie bist du überhaupt hier gelandet, Ash?«, fragte Jillan im matten, flackernden Licht des Kohlenbeckens. Lange erhielt er keine Antwort und fragte sich, ob der Waldläufer sich überhaupt noch die Mühe machen würde, etwas zu erwidern.
Schließlich sagte der Mann mürrisch: » Du bist ganz schön neugierig, Irkarl. Es geht dich eigentlich nichts an, aber ich gehöre zu den Unreinen. Macht dir das Angst?«
» Äh… ich weiß nicht, was die Unreinen sind. Das hat nichts damit zu tun, ob man sich wäscht, oder?«
» Nein!«, prustete Ash. Er schwieg kurz. » Es ist viel schlimmer und ganz sicher nichts, womit jemand auf Pilgerfahrt es zu tun bekommen möchte.«
» Wirklich?«, fragte Jillan so leichthin wie möglich.
» Wirklich. Ich bin ein Ausgestoßener. Der Heilige wollte nichts mit mir zu tun haben. Er hat mir verboten, je zu heiraten oder Kinder zu zeugen. Als meine Eltern gestorben sind, haben die Ältesten von Erlöserparadies beschlossen, dass das Haus, in dem ich aufgewachsen war, einer Familie zufallen sollte, also hatte ich keine Bleibe mehr. Ich wurde mehr oder minder verbannt. Sie dulden es, dass ich die Gemeinde besuche und an Markttagen Handel treibe– die Pelze, die ich erbeute, verkaufen sich schnell, und meine Schnitzarbeiten sind anscheinend beliebt–, aber ansonsten bin ich dort nicht gern gesehen. Ich nehme an, du möchtest jetzt gehen.«
» Nein, nein«, versicherte ihm Jillan. » Ich bleibe eine Weile, wenn du mich lässt. Aber warum hat sich der Heilige gegen dich gewandt? Hattest du etwas Schlimmes getan?«
» Ha! Du weißt also wirklich nicht, was es bedeutet, unrein zu sein. Man wird nicht unrein, weil man etwas Bestimmtes tut, sondern weil man etwas Bestimmtes ist. Ich bin bereits so geboren worden. Bist du schon zu den Erlösern gezogen worden, Irkarl? Du bist im richtigen Alter.«
Jillan war froh, dass der Mann seinen Gesichtsausdruck im Halbdunkel nicht würde erkennen können, denn sonst hätte er sicher bemerkt, dass etwas nicht stimmte. » Äh, nein. Ich werde erst zu den Erlösern gezogen, wenn ich meine Pilgerfahrt beendet habe.«
» Natürlich. Na, dann lass mich dir etwas darüber erzählen, was geschieht, wenn jemand gezogen wird.«
» Nein, bitte nicht! Ich meine… es ist doch ein heiliges Sakrament, das geheim bleiben muss, nicht wahr?« Jillan verlor den Faden. » Tut mir leid, vergiss, dass ich das gesagt habe. Ich würde mich freuen, alles zu hören, was du mir erzählen kannst, Ash.«
» Na gut. Also: Der Heilige fordert dich auf, einen Schluck dickflüssigen Wein zu trinken, und steckt dir eine Röhre in den Arm.«
» Eine Röhre?«
» Ja, ein dünnes Röhrchen. Es besteht aus Sonnenmetall.«
» Wirklich? Ich habe noch nie Sonnenmetall gesehen. Leuchtet es wirklich so, wie man sich erzählt?«
» Jedenfalls steckt einem der Heilige das Röhrchen in den Arm, sodass das Blut herausströmt. Der Makel soll mit dem Blut herauskommen, verstehst du? Aber als der Heilige mein Blut geschmeckt hat…«
» Er hat dein Blut getrunken? Igitt!«
» Als er mein Blut geschmeckt hat, hat er gesagt, der Makel würde nicht mit herauskommen und dass ich ein Unreiner sei. Ich konnte nicht gezogen werden. Dann wurde ich ausgestoßen, und das war ’s. Aber mir ist es so lieber. Hier kann ich tun, was ich will. Ich muss nicht auf dem Feld oder bei den Viehherden arbeiten. Ich werde nicht den ganzen Tag von Helden beobachtet. Ich kann frei kommen und gehen, wie ich will. Frei.«
» Das ist… das ist…«, begann Jillan, aber er wusste eigentlich nicht, was es war, und schwieg, während er über alles nachsann, was er gehört hatte. Sie saßen eine ganze Weile in freundschaftlichem Schweigen beieinander.
Irgendwann durchbrach Ash die Träumerei mit den Worten: » Ah, da ist er ja.«
» Da ist wer?«, fragte Jillan, sah sich um und schnappte nach Luft, als er einen großen schwarzen Wolf höchstens sechs Fuß von ihnen entfernt liegen sah. Die orangefarbenen Augen des Tiers glommen in der Dunkelheit wie Kohlen, und Jillans ganzer Kopf hätte zwischen die mächtigen Kiefer gepasst. Plötzlich ließ der Wolf die Zunge aus dem Maul hängen und leckte sich die Lefzen, als sei
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